von Wolfgang Sannwald
Der Landkreis Tübingen und KulturGUT e.V. entwickelten die Qualifizierung von Jugendguides seit 2010 im Kontext mehrerer Fachtagungen und Seminarveranstaltungen des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft sowie des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen. Die Qualifizierung fand seit 2012 jedes Jahr statt. Sie besteht aus Exkursionen, Workshops und öffentlicher Multiplikation des Themas „NS-Verbrechen vor Ort“.
Vorgeschichte – interessiert das Thema Jugendliche?
Wichtige Impulse hatten die vom Landkreis mit den Universitätsinstituten im Landratsamt Tübignen veranstalteten Tagungen „Wechsel der Welten. Die Bedeutung von Museen für Kinder, Jugendliche und Familien“ 2004, „Welten erschließen im Museum. Museen als Bildungsorte für Kinder und Jugendliche“ 2005, „Erinnerungskultur und Bildungslandschaft“ 2008, „Gedenken 21 – Pflicht und Freiheit des Erinnerns“ 2010 sowie „Jugendbildung und NS-Verbrechen vor Ort“ 2013 gesetzt. Eine inernationale Verortung ermöglichte die online-Tagung „Jugendengagement in der Erinnerungskultur international“ mit Beteiligten aus Deutschland, Polen und Tschechien.
Bei den Tagungen und im Lauf mehrerer Forschungsseminare seit 2008 wurden disparate erinnerungskulturelle Entwicklungen sichtbar: 1. Viele Gedenkstätten befanden sich in einem Umbruch, weil es immer weniger Zeitzeugen für NS-Verbrechen gibt. 2. Viele eher kleine Gedenkstätten in der Region beklagten sich über nachlassende Besuche überhaupt und insbesondere von Schulklassen. 3. Gegenüber den Klagen kleinerer Gedenkstätten über nachlassende Besuche zeichnete sich ein Zuwachs von Schulklassenbesuchen in überregionalen Gedenkeinrichtungen ab, etwa der KZ-Gedenkstätte Dachau, aber auch der regionalen Gedenkstätte Grafeneck. 4. Lehrende an Schulen klagten über fehlendes Interesse Jugendlicher am Thema. 5. Befragungen Jugendlicher wiesen demgegenüber auf deren Interesse am Thema und darauf hin, dass die Schule dieses nicht befriedige.
Aus den disparaten Beobachtungen ergab sich unter anderem eine Frage: Nimmt die Motivation von Schüler*innen für das Erinnern an NS-Verbrechen ab, wenn sie es als Unterrichtsstoff reproduzieren sollen? Besteht eine Motivation Jugendlicher für das Thema jenseits der Befassung im schulischen Unterricht?
Grundgedanke – Zwischen Position und Reproduktion
Das Kreisarchiv Tübingen erarbeitete unterstützt vom Kreisjugendreferat des Landkreises Tübingen seit 2010 die Jugendguides-Qualifizierung als Form der Offenen Jugendarbeit. Das Ziel dieser Qualifizierung unterscheidet sich von dem der Schule oder von dem vieler Gedenkeinrichtungen. Wer in die Schule geht, muss die Kapitel der Erinnerungskultur aus Lehrbüchern in Klassenarbeiten wiedergeben können. Wenn Jugendliche in Gedenkstätten mitarbeiten, sollen sie das von der Gründungsgeneration erarbeitete Wissen weitertragen. Beide Institutionen nehmen damit wichtige Aufgaben für die Gesellschaft wahr.
Eigenmotivation im Vordergrund
Bei der Qualifizierung von Jugendguides geht es zuerst um deren Eigenmotivation. Die 15- bis 23-Jährigen, die teilnehmen, investieren aus eigenem Interesse 40 Stunden ihrer außerschulischen Freizeit. Innerhalb der 40 Qualifizierungsstunden können Jugendliche und junge Erwachsene zunächst viele eigene Interessen zum Thema verfolgen und dazu eigene Positionen formulieren.
dialogische Entwicklung
Während der gesamten Qualifizierung reagiert das Leitungsteam laufend darauf, wie sich diese Positionen entwickeln. Es stützt sich dabei auf Forschungstagebücher, verschriftlichte Ergebnisse von Kleingruppenarbeiten, Resonanz aus der gesamten Gruppe und teilnehmende Beobachtung.
Wie offen die Jugendguides-Qualifizierung für die Eigenmotivation der Jugendlichen ist, veranschaulicht das Zeitbudget der Exkursion in die KZ-Gedenkstätte Natzweiler-Struthof. Diese steht am Beginn jedes Jahrgangs der Jugendguides-Qualifizierung. An drei Tagen sind insgesamt etwa 16 Qualifizierungsstunden gestaltbar. Sechs davon sind für Feedback und Gruppenprozesse vorgesehen. Nur etwa zwei Stunden gibt es fachlichen Input. Zeitzeugen aus der Gedenkarbeit sind etwa eine Stunde lang für Gespräche dabei. Etwa drei Stunden lang erarbeiten sich die Jugendlichen historische Informationen individuell oder in Expertengruppen.
Rascher Informationserwerb
Dafür erhalten sie grundlegendes Know-how: Sie formulieren intern authentische Aussagen zu ihren Wahrnehmungen, erproben eine angemessene Rhetorik, befassen sich mit Gruppenprozessen. Und sie erhalten konkrete historische Informationen in Form einzelner Quellen. Vor den ersten öffentlichen Auftritten befassen sich die Teilnehmenden in einem sechsstündigen Workshop mit archivalischen Quellen und erarbeiten Inhalte, die sie für interessant halten.
Expertise über reproduzierte archivische Quellen
Dabei liegt der Schwerpunkt darauf, dass die Jugendguides mit historischen Quellen umgehen, diese beschreiben und ihre eigenen Erkenntnisse zu einzelnen Quellen formulieren. Wer eine einzelne Quelle intensiv beschreibt, braucht sich nicht an generellen Thesen oder Forschungsnarrativen abzuarbeiten.
Erleben eigener Wirksamkeit
Schon während der Auftakt-Exkursion nach Natzweiler-Struthof haben die Jugendguides fünf Stunden Zeit, nach dem Peer-to-Peer-Prinzip wechselseitig ihre erarbeiteten Inhalte in Besichtigungsgruppen (am Mahnmal Hailfingen und auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Natzweiler-Struthof) zu präsentieren und sich Resonanz abzuholen.
Ein wesentlicher Motivator ist die öffentliche Wirksamkeit. Bereits während der Qualifizierung beteiligen sich die Jugendguides am öffentlichen erinnerungskulturellen Diskurs.
KulturGUT und der Landkreis schaffen etwa 20 bis 30 Anlässe pro Jahr für die öffentliche Wirksamkeit der Jugendguides. Noch am selben Tag leiten sie öffentliche Stadtgänge „Auf den Spuren der Stolpersteine“, zur „Universität im Nationalsozialismus“ oder zu „Erbgesundheit und Euthanasie-Morden“. Bei Stolpersteinen, an authentischen Orten, Plätzen oder Gebäuden bringen sie dann das Thema NS-Verbrechen vor Ort anhand historischer Quellen narrativ zum Vorschein.
vor Ort-Prinzip
Sie befassen sich dabei mit ihrer eigenen Lebenswelt, in der sie sich bewegen, die sie oft täglich erleben. Es geht um historische Entwicklungen, die für diese Lebenswelt noch heute relevant sind.
Bilanz
Der Landkreis Tübingen, KulturGUT, das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, das Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen und die Geschwister-Scholl-Schule Tübingen arbeiteten über Jahre hinweg in Seminaren, Workshops und Tagungen am Projekt Qualifizierung von Jugendguides. In den Jahren 2012 bis 2023 investierten 280 Jugendliche aus der Region außerschulisch jeweils mindestens 40 Qualifizierungsstunden innerhalb eines Jahres. Es nahmen 147 junge Frauen und 107 junge Männer teil, 169 waren zum Zeitpunkt der Qualifizierung jünger als 18. Hinzu kamen in den drei Jahren 2017 bis 2019 31 Jugendliche der polnischen Zespół Szkół w Krzepicach, die sich Teilen der Qualifizierung im Rahmen eines Austausches anschlossen. 2024 nahmen 28 an der Qualifizierung teil.
Seit 2018 können Studierende der Empirischen Kulturwissenschaft die Qualifizierung als Kurs belegen. Der Landkreis Tübingen finanziert die Qualifizierung der Jugendguides von Haushaltsjahr zu Haushaltsjahr. Schulische Akteur*innen beteiligten sich von Anfang an an der Entwicklung der Jugendguides-Qualifizierung. Vor allem die Geschwister-Scholl-Schule Tübingen entwickelte Formen, diese ursprünglich außerschulische Qualifizierung für den Unterricht nutzbar zu machen. Insofern bietet das Projekt auch Anschluss an den Transfer wissenschaftlichen Forschens zur Erinnerungskultur in das schulische Umfeld.
Öffentliche Wirksamkeit
Ein wesentliches Element bei der Qualifizierung von Jugendguides ist deren öffentliche Wirksamkeit. Der Landkreis Tübingen und KulturGUT initiieren und begleiten Jahr für Jahr öffentliche Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themen.
Jugendguides aktiv bei KulturGUT 2013 bis 2023 | |||
Jahr | Veranstaltungen an der GSS | andere Veranstaltungen | Summe |
2013 | 11 | 11 | |
2014 | 18 | 18 | |
2015 | 5 | 12 | 17 |
2016 | 5 | 7 | 12 |
2017 | 3 | 13 | 16 |
2018 | 8 | 14 | 22 |
2019 | 9 | 31 | 40 |
2020 | 0 | 8 | 8 |
2021 | 0 | 18 | 18 |
2022 | 1 | 28 | 29 |
2023 | 0 | 27 | 27 |
Der Landkreis Tübingen hat mit der Qualifizierung von Jugendguides auch im Vergleich zu anderen Landkreisen bundesweit eine eigene Position im erinnerungskulturellen Diskurs eingenommen. Landkreis und Kreistag machen damit deutlich, dass Erinnerungskultur eine Aufgabe der öffentlichen Hand ist.