28. September 2025

Aus Hotel wird „Refugio“ – Geflüchtete beleben die Innenstadt

Von Michael Seifert

Das „Refugio“ in Hechingen gilt als Vorzeigeprojekt für gelingende Integrationsarbeit mit Geflüchteten, spätestens seit es 2025 unter 135 Bewerbern mit dem Integrationspreis des Landes Baden-Württemberg in der Kategorie „Zivilgesellschaft“ ausgezeichnet wurde. Die Begründung der Jury macht neugierig: „Das Projekt zeigt, dass Integration, lernen, leben und arbeiten sowie Dorfkernbelebung, Begegnung und gutes Essen kein Widerspruch sein müssen. All das vereint der Sieger dieser Kategorie! Das Projekt schaffe einerseits erste Grundlagen für die Teilhabe und Integration von Geflüchteten, andererseits belebe es durch die Nutzung eines leerstehenden Gebäudes signifikant den Ortskern einer Kommune“, so die Jury. tuenews INTERNATIONAL hat sich vor Ort bei „Refugio“ umgesehen und mit Almut Petersen vom Asylkreis Hechingen gesprochen, die das Projekt von Anfang an betrieben und verantwortet hat.

Ende 2023 hat alles begonnen: Über ein Jahr stand das Traditionshotel Klaiber am Obertorplatz leer, dem zentralen Platz von Hechingen, das zugehörige Restaurant und Café musste schon während der Corona-Zeit schließen. Zugleich herrschte großer Notstand bei der Unterbringung von Geflüchteten, allenthalben wurden geeignete Gebäude gesucht, um nicht weiter auf Notunterbringungen in Turnhallen zugreifen zu müssen. Da bot sich ein leerstehendes Hotel mitten in der Stadt geradezu an – das in einem Zustand hinterlassen wurde, „als wollte es gleich am nächsten Tag wieder öffnen“, wie Almut Petersen berichtet: „man musste die Gastzimmer nur einmal durchputzen wegen des Staubs.“

Eine coole Idee – schnell umgesetzt
Der Arbeitskreis Asyl Hechingen, der über 30 Jahre Erfahrung in der Betreuung von Geflüchteten, ehrenamtlichen Sprachkursen und der Schaffung von Begegnungsmöglichkeiten verfügt, nahm sich der Sache an. Er entwickelte die „coole Idee“, dass es nicht bei einer simplen neuen Unterbringung für Geflüchtete mit Räumen für den Deutschunterricht bleiben durfte, sondern dass man aus der zentralen Lage mitten in der Stadt ein umfassendes Projekt machen müsste: „Die Bevölkerung sollte auch etwas dafür zurückbekommen, wenn in solcher Lage eine Unterkunft entsteht. Sie sollte diesen Raum durch Wiedereröffnung von Café und Restaurant auch wieder nutzen können“, so Almut Petersen. Die Idee war eigentlich ganz simpel: „Wenn für die Versorgung der Geflüchteten sowieso gekocht werden musste, konnten wir dieses Essen auch für Gäste anbieten.“ Mit Günther-Martin Pauli, Landrat des Zollernalb-Kreises, fand für diese Idee sofort einen Unterstützer, der das Projekt zu seiner Sache machte. Der Landkreis mietete das Gebäude an.

Mitten drin – vom ersten Tag an
Für die „neuen Hotelgäste“, Geflüchtete, die aus der Erstaufnahme zugewiesen wurden, hatte das Projekt weitreichende Konsequenzen: „Diese Menschen machen vom ersten Tag an mit, sie besuchen die Sprachkurse, werden für einfache Arbeiten angelernt, als erstes in Putzteams, dann an Maschinen, beispielsweise den Waschmaschinen, dann an der Theke in der Gastronomie und in der Küche“, erzählt Petersen. „Erst geschieht das auf ehrenamtlicher Basis, dafür braucht man auch keine Arbeitserlaubnis. Nach einer Weile können wir die Leute auch anstellen. Auf dem Arbeitsmarkt würden die Deutschkenntnisse noch nicht ausreichen, aber hier schon, weil die Kunden wissen und akzeptieren, dass nicht alles schon perfekt ist, dass man auch mal das falsche Getränk bekommt. Aber man lernt hier ganz schnell. Selbst wenn jemand noch gar nie in die Schule gegangen ist und erst noch lesen und schreiben lernen muss, kann er bei den Tätigkeiten hier schon die Sprache lernen.“ Schließlich würden BewohnerInnen auch an andere Arbeitgeber weitervermittelt. So hätten alle im Hause, die schon länger hier sind, entweder einen Job oder machten einen Integrationskurs. „Vier sind sogar schon in der Ausbildung und das nach maximal eineinhalb Jahren Deutschkurs“, hebt Petersen hervor.

Eine neue Familie – im ehemaligen Hotel
Besonders wichtig ist für Almut Petersen die psychische Stabilisierung, die die Geflüchteten im Projekt erfahren: „Fast alle haben traumatisierende Erlebnisse, viele auch starke psychische und/oder körperliche Verletzungen hinter sich: Folter, Misshandlung im Heimatland oder auf der Flucht.“ Eine eigentlich nötige psychotherapeutische Behandlung sei praktisch nicht zu bekommen, die Aufarbeitung der Verletzungen geschehe hier in der Gemeinschaft im Projekt: „Sie sind hier nicht einsam, es gibt keine Anonymität. Für neu Angekommene gibt es eine Art Patensystem, es entstehen sofort Beziehungen bis hin zu gemeinsamen Festen.“ Auf diese Weise entstehe eine neue „familiäre“ Situation und ein wirkliches Zuhause. „Hier gibt es Tagesstruktur und Öffentlichkeit, das heißt wenn ich essen will, muss ich mich richtig anziehen. Diese Struktur hilft, nicht ganz in der Depression zu versinken. Die Leute kümmern sich umeinander. Sie haben das Gefühl, gebraucht zu werden, nicht unerwünscht zu sein. Egal was der deutsche Staat mit ihnen macht, hier sind sie willkommen“, fasst Petersen zusammen. Und wenn sie dann in eine andere Unterkunft verlegt würden, kämen sie immer wieder zu Besuch vorbei.

Mehrwert für die Bevölkerung
Und welchen Mehrwert hat nun die Hechinger Bevölkerung vom „Refugio“? „Wir haben viel Laufkundschaft. Familien gehen den Schaukelwanderweg und kehren bei uns ein. Im ersten Sommer waren wir zeitweise das einzige Lokal im Zentrum, das geöffnet hatte. Montags gibt es Veranstaltungen, zu denen die Bevölkerung eingeladen ist. Einmal im Monat bieten wir einen ‚Länder-Abend’ an, bei dem die Geflüchteten über ihre Herkunftsländer informieren, über ihre Lebensumstände, Gebräuche und Kultur erzählen. Dabei ist das Heimweh in jedem Satz zu spüren. Und dann müssen sie erklären, warum sie jetzt nicht zurückkehren können.“ Schließlich informiert noch eine Poster-Ausstellung in einem öffentlich zugänglichen Raum nebenan mit Text- und Bildporträts der Geflüchteten über deren schwere Schicksale und damit über die Gründe für die Flucht.

Petersen sieht eine hohe Akzeptanz in der Hechinger Bevölkerung. In der Entstehungsgeschichte gab es durchaus Widerstände von Teilen des Gemeinderats, hauptsächlich weil dieser bei der Entscheidung nicht eingebunden war, teilweise aber auch wegen inhaltlicher Bedenken gegen das Konzept. Die Erfolgsgeschichte des Projekts habe diese weitgehend ausgeräumt. Freilich zieht die in Hechingen starke AfD mit ihren allmontäglichen Demonstrationen auch am „Refugio“ vorbei. „Deswegen hatten wir zunächst natürlich schon Sorge um die Geflüchteten, die hier wohnen. Es gibt aber zum Glück keine Angriffe aufs Refugio, trotz deren grundsätzlich ablehnenden Haltung gegen Geflüchtete,“ so Petersen.

Unterstützung durch Menschen und Gelder
Auf die Frage, wie das alles zu bewerkstelligen war, verweist Almut Petersen auf die persönliche Unterstützung durch den Landrat und das Team des Arbeitskreis Asyl. Auch für die Mitarbeitenden im Landratsamt sei es eine riesige Aufgabe gewesen, ein so großes Projekt neben den übrigen Aufgaben administrativ zu begleiten und durchzuführen. Ganz entscheidend tragen fünfzehn ehrenamtliche Lehrkräfte in den Sprachkursen bei. Etwa 30 weitere Ehrenamtliche übernehmen organisatorische Aufgaben, begleiten das Projekt inhaltlich, machen Öffentlichkeitsarbeit und helfen bei größeren Events, wo sie mit den Geflüchteten gemischte Teams bilden. Die Arbeit in Küche und Gastronomie wird im Alltag im Wesentlichen von den Geflüchteten selbst erledigt. Almut Petersen hält als Geschäftsführerin des Refugios und Vorsitzende des AK Asyl in Personalunion das Projekt zusammen.

Finanziert werden Räume, Infrastruktur, die Versorgung der Bewohner durch das Landratsamt. „Alles was darüber hinaus geht, muss der Arbeitskreis stemmen. Die Einnahmen aus der Gastronomie machen dafür etwa die Hälfte aus, der Rest wird durch Spenden und Fördermittel aus verschiedenen Quellen finanziert“, erläutert Petersen. Dabei ist die hohe öffentliche Aufmerksamkeit mit auch überregionaler Berichterstattung, etwa in Tagesschau, Morgenmagazin, Spiegel online und sogar im französischen Fernsehen von Vorteil. „Und die Politiker gaben sich die Klinke in die Hand, auch Ministerpräsident Kretschmann hat uns besucht.“ So wurden dem Projekt ganz aktuell Fördermittel des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration in Höhe von 80.000 Euro für drei Jahre bewilligt.

Refugio im Internet: AK Asyl Hechingen | Refugio
SWR | Integrationsprojekt Refugio
ARD Mediathek | Modellprojekt Refugio

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