Als am 20. März 2020 die letzten Printexemplare der Wandzeitung Edition 185 in den Sammelunterkünften im Kreis Tübingen hingen, ahnte wohl niemand, dass damit eine Ära zu Ende ging. Der Corona-Lockdown am 22. März 2020 stellte auch für das Redaktionsteam von tuenews INTERNATIONAL die Welt auf den Kopf. Er brachte nicht nur das Ende der wöchentlichen Redaktionskonferenzen im Landratsamt. Selbst die Auslieferung der fertigen Wandzeitungen wäre wegen des Kontaktverbots nicht mehr möglich gewesen. Dem Projekt drohte das Aus – gleichzeitig war der Bedarf riesengroß, denn Informationen in den Muttersprachen der Geflüchteten waren so gut wie nicht verfügbar. Doch das Team um Herausgeber Wolfgang Sannwald riss das Ruder herum. In Windeseile wurde aus einer wöchentlichen Wandzeitung ein tagesaktuelles Infoportal im Internet. Ademola Adetunji aus Nigeria, der seit 2019 der Online-Redaktion angehörte, hatte schon länger Pläne für eine Homepage. Jetzt legte er los. Hajera Sheikh aus Pakistan und Rahima Abdelhafid aus Algerien posteten die Meldungen. Somit wurde Corona für tuenews INTERNATIONAL zum Katalysator für die Digitalisierung. Die App „Integreat“, mit denen Kommunen Informationen für Geflüchtete teilten, wurde zum Partner – tuenews INTERNATIONAL ist bis heute ein wichtiger Lieferant von „Content“.
Nachrichten in Echtzeit
Wolfgang Sannwald, im Hauptberuf Leiter der Öffentlichkeitsabteilung im Landratsamt, erinnert sich, wie rasant sich das Leben änderte. Als er im März 2020 nach einer kurzen Erkrankung zurück ins Büro wollte, fand das Leben im Landratsamt bereits weitgehend online statt. Auch Stabsbesprechungen gab es nur noch am Bildschirm. „Von meiner Tätigkeit an der Uni kannte ich die Online-Tools Zoom und Padlet“, erzählt er. Er zog den Schluss, dass die Zukunft von tuenews in der Digitalisierung lag. „Uns war klar, dass jemand, der nur gebrochen Deutsch spricht, von dem Informationswirrwarr völlig überfordert war.“ Die neue WhatsApp-Gruppe der Redaktion lief heiß, die neue Homepage wurde in Echtzeit mit Nachrichten bestückt. „Zwei Wochen gab es noch einen Parallelbetrieb von Papier- und Online-Ausgabe“. Dann war die Umstellung geschafft. Das tuenews-Magazin überdauerte noch etwas länger auf Papier.
Ungewohntes Arbeiten
Corona und der Lockdown veränderten auch die Arbeitsweisen. Die Redaktionskonferenz wurde zur Videokonferenz, per WhatsApp wurden Übersetzungen und Uploads koordiniert. Die Online-Arbeit war ungewohnt und anstrengend. Ein fester Redaktionsschluss wie bei der Wandzeitung gab es nun nicht mehr: Meldungen konnten plötzlich theoretisch rund um die Uhr hochgeladen werden. Sannwald hatte damals daheim noch nicht einmal einen Internetanschluss: „Ich habe Mobiltarife genutzt und musste laufend Gigabyte nachbuchen.“ Das Medium beschleunigte sich ungemein. „Ich habe mich zwischendurch immer wieder zu Spaziergengen abgemeldet, um einen klaren Kopf zu kriegen“, erinnert sich Sannwald. Mit dabei: die Kamera. Für die neue Homepage hat er alle Absperrbänder an Spielplätzen und jedes Schild mit Coronaregeln abgelichtet.
Das Handy: Nabel der Welt
Es stellte sich heraus, dass die Geflüchteten im Umgang mit den neuen Medien oft technisch versierter waren als die Hauptamtlichen und Coaches im Redaktionsteam. „Ehrlich gesagt, haben wir uns anfangs über die Zielgruppe getäuscht“, sagt Sannwald. „Wir dachten, unsere Art der digitalen Kommunikation über E-Mails und Internet sei modern.“ Doch für viele Geflüchtete stand das Handy längst zu jedem Zeitpunkt ihrer Flucht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es war ihr Nabel zur Welt und bot Navigation, Kommunikation, sicherte die Bilder der wichtigsten Papiere und leistete Übersetzerdienste. Dennoch waren 2015/2016 die Wandzeitungen das Mittel der Wahl, denn teure Handytarife und wenig WLAN-Hotspots schränkte die Kommunikation der Geflüchteten in Deutschland ein.

Verlässliche Informationen
Nach der Umstellung gab die hohe Nachfrage nach den tünews-Meldungen im Internet der Redaktion recht. Die schnell wechselnden Corona-Verordnungen mit ihren Kontaktbeschränkungen, Lockerungen und Verschärfungen fanden dank tuenews-Redakteurin Ute Kaiser schnell ins Netz: nicht nur auf Deutsch, sondern dank des Übersetzerteams auch auf Arabisch, Dari/Farsi und Englisch. Wer sich auf die tuenews-Seiten begab, konnte sicher sein, verlässliche Informationen aus sicheren Quellen und keine Verschwörungstheorien zu erhalten: Wen darf ich treffen, wo kann ich einkaufen, wie funktioniert das Tübinger Modell, wann kann ich mich testen und später impfen lassen? Das waren die Fragen, die tuenews beantwortete. Wolfgang Sannwald ist noch heute der Überzeugung, das tuenews mit seiner Kombination aus Themen, die im Alltag der Zielgruppe gründen, journalistischer Professionalität und geprüften Übersetzungen noch heute bundesweit einzigartig ist. tuenews kam zugute, dass der Landkreis die Infoplattform mit einer Grundfinanzierung ausgestattet hatte. Gesichert war eine feste Stelle für die Koordination und Honorare für Minijobberinnen für die Übersetzungsarbeiten.
Laptop und Suppentopf
Die virtuellen Meetings veränderten auch den Stil der Redaktionskonferenzen. „Bei den Geflüchteten waren die Kinder im Hintergrund zu hören“, erinnert sich Sannwald. Weil sich die Geflüchteten oft mit dem Smartphone zuschalteten, gaben sie auch Einblicke in ihren Alltag – etwa wenn sie sich auf dem Heimweg von der Arbeit schon einmal in die Sitzung einklinkten. Auch sonst vermischten sich Arbeit und Privatleben: Man konnte nun die Kamera mal kurz ausschalten und schnell während einer Onlinesitzung die Suppe im Topf auf dem Herd umrühren. Die Geflüchteten hat die wöchentliche Sitzung aus der Einsamkeit des Lockdowns gerissen. „Während Corona war tuenews oft der einzige Ort, an dem ich Deutsch sprechen konnte“, erinnert sich die gebürtige Syrerin Oula Mahfouz, tuenews-Redakteurin der ersten Stunden. In der Corona-Zeit entstand auch die Einstiegsrunde mit einer Frage an alle: Wo geht Ihr am liebsten spazieren? Welche Getränke helfen Euch bei großer Hitze? Sie animierten zum Sprechen – und brachten oft neue Themen für die Homepage mit sich.

Ukrainisch kommt dazu
Als 2022 der Ukrainekrieg ausbrach, konnte tuenews auf die Erfahrungen aufbauen. Zwei geflüchtete Ukrainerinnen setzten sich mit Coaches zusammen und entwickelten eine eigene Informationsstrategie. Die guten Englischkenntnisse der Ukrainerinnen und inzwischen weiter entwickelte Übersetzungssoftware, erleichterte es den beiden, direkt bei deutschen Behörden zu recherchieren. Auch hier waren es die Alltagsfragen, die im Mittelpunkt standen. Wie finde ich eine eigene Wohnung? Wo kann ich in Deutschland Briefmarken kaufen? Warum muss ich meinen Hund bei der Stadt anmelden? tuenews-Redakteurin Yana Rudenko machte sich wegen ihres (Fern)-Studiums im Sommer 2022 noch einmal auf die lange Reise nach Kiew. Als Ministerpräsident Winfried Kretschmann währenddessen die tuenews-Redaktion besuchte, gelang es, eine Online-Verbindung in den fahrenden Bus in der Westukraine herzustellen. Kretschmann zeigte sich tief beeindruckt. Auch beim Sturz des Assad-Regimes in Syrien half die digitale Vernetzung, schnell Informationen aus erster Hand und Einschätzungen zu gewinnen.
tuenews global
Zur eigenen Homepage und ersten zaghaften Auftritten auf Facebook kommt in dieser Zeit nun ein Instagram-Account, der ebenfalls in mehreren Sprachen bedient wird. Die Zoom-Konferenzen einmal die Wochen blieben bestehen – auch weil es den Redaktionsmitgliedern teils längere Anfahrtswege erspart und familienfreundlicher ist. Dass die Redaktionsassistentin die virtuellen Treffen zeitweise von ihrem Studienort Finnland aus moderiert, wundert längst niemanden mehr. Treffen „in echt“ gibt es trotzdem: Sei es an Seminarwochenenden oder auch, um gemeinsam zu feiern: zum Beispiel beim gemeinsamen Fastenbrechen an einem Abend im Ramadan.
Von Brigitte Gisel
tun25121702

