Von Brigitte Gisel
„Teddybär, Teddybär, dreh Dich um“. Ansam Audi steht im Halbkreis mit ihren fünf kleinen Schwimmschülerinnen und -schülern im Nichtschwimmerbecken des Tübinger Freibads. Alle halten sich an den Händen, sprechen gemeinsam den Reim. Auf Kommando lassen sie los und drehen sich mit der Poolnudel im Arm einmal um die eigene Achse. Sie treiben im Wasser und kichern. Auch ihre Schwimmlehrerin strahlt. Am zweiten Tag des Anfängerschwimmkurses von „Schwimmen für alle Kinder“ sind die Fünf- bis Zehnjährigen schon mutiger geworden. Das Wasser, das türkis in der Sonne glitzert, ist ihnen schon sehr viel vertrauter als am Tag zuvor. Sie wagen es auch, einfach reinzuspringen oder mal kurz den Kopf unter Wasser zu tauchen. Ansam Audi weiß, dass die Chancen gutstehen, dass ihre Zöglinge am Ende des Kurses die Prüfung fürs Seepferdchen schaffen.
Von der Schülerin zur Lehrerin
Dass Ansam Audi einmal in einem deutschen Freibad Kindern das Schwimmen beibringt, stand nicht auf dem Lebensplan der jungen Jesidin. Sie wurde 1997 im Nordirak geboren und damals war an Schwimmen nicht zu denken. Noch 2016, als sie sich aus Angst vor Verfolgung mit zwei ihrer kleineren Geschwister auf den Weg nach Deutschland machte, war ihr das Element Wasser fremd. Kein einziges Mal war sie zuvor baden gewesen. Sie mied das Wasser auch unterwegs, nahm lieber den langen und nicht minder gefährlichen Landweg auf sich. Auf verschlungenen Wegen landete sie schließlich in Ofterdingen. Dort beginnt sie Deutsch zu lernen. 2019 erfährt sie von der Initiative „Schwimmen für alle Kinder“ und den Schwimmkursen. Ihr Bruder lernt dort bereits schwimmen. „Das wollte ich mal probieren“, sagt Ansam. Aber sie ist unsicher. Was zieht man eigentlich an zum Schwimmen? Und was werden die Leute denken? Gemeinsam mit ihrer Schwester sucht die damals 22-Jährige im Internet nach Badeanzügen. Die Wahl fällt auf ein Exemplar mit etwas längeren Beinen. Damit fühlt sie sich sicher. Dann die erste Schwimmstunde im Tübinger Uhlandbad: „Das Wasser hat sich gut angefühlt“, sagt sie. Von da an lernt sie alles – von Brustschwimmen bis Kraulen, Rücken und Delphin, beginnt zu tauchen und macht das Seepferdchen und andere Schwimmabzeichen. Irgendwann hat sie die Idee, eine Ausbildung zur Rettungsschwimmerin zu beginnen, um anderen helfen zu können.
Der Kampf mit der Angst
Doch dann kommt plötzlich die Angst. Obwohl Ansam selbst keinerlei schlechte Erfahrungen mit Wasser gemacht hat und eine gute Schwimmerin ist, fühlt sich Wasser für sie plötzlich seltsam bedrohlich an. Mit einem Mal geht ihr immer wieder durch den Kopf, was andere Geflüchtete von den Schrecken der Fahrt übers Meer in den Flüchtlingsbooten erzählen. Auch in ihrer eigenen Familie sind Menschen auf der Flucht übers Meer ertrunken. Ansam stellte sich ihren Gefühlen. „Ich habe mir immer gesagt: Ich gebe nicht auf“, erzählt sie. Sie redet sich ein, es nur noch dieses eine Mal zu probieren. Doch beim nächsten Termin ist ihr Mut dann doch wieder größer als die Angst. Sie steigt ins Wasser und macht weiter mit dem Rettungsschwimmer-Kurs. Die Angst trainiert sie sich daheim auf dem Trockenen ab. „Ich habe mich vor einen Spiegel gesetzt und mir vorgesagt, was ich schon alles geschafft habe“, erzählt sie und lacht dabei. An anderen Tagen setzt sie sich in einen Raum, schließt die Augen geschlossen und lässt Bilder von Wasser an ihrem inneren Auge vorüberziehen. Wenn das alles doch nicht reicht, ruft sie sich ihre beiden kleinen Geschwister und die Flucht ins Gedächtnis: „Wenn ich das geschafft habe, schaffe ich das jetzt auch.“
„Ich wollte auch was zurückgeben“
Irgendwann wird die Angst kleiner und Ansams Freude am Wasser ist wieder ungetrübt. Auch Corona kann ihre Ausbildung zur Schwimmlehrerin nicht ausbremsen. Ihr Wunsch, ihre Erfahrungen weiterzugeben, ist einfach stärker. Seit ihrem eigenen Schwimmkursen ist sie dem Verein „Schwimmen für alle Kinder“ verbunden, hilft bei Kursen aus und wächst mit ihrer Ausbildung zur Rettungsschwimmerin nach und nach in die Aufgaben einer Schwimmlehrerin hinein. Der Verein ist für sie ein bisschen auch so etwas wie eine Familie. „Ich wollte auch was zurückgeben“, sagt sie. Sie hat inzwischen auch eine Zusatzausbildung zur Inklusionsschwimmlehrerin absolviert und kann jetzt auch Schwimmkurse leiten, an denen Kinder mit Beeinträchtigungen teilnehmen. Zeit für die Schwimmkurse fand sie auch während ihrer Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin. Nach dem Abschluss sucht sie jetzt eine Stelle. Den deutschen Pass hat sie beantragt, doch das Verfahren ruht, bis sie eine neue Arbeit gefunden hat.
Ein buntes Team
Sie ist nicht die Einzige mit Fluchterfahrung, die als Kind bei dem Verein schwimmen lernte und dann selbst zur Lehrerin wurde: Den Weg gingen auch Eddy aus Syrien und Ruzbeh aus dem Iran. Vadzim aus Belarus kam schon als ausgebildeter Rettungsschwimmer nach Deutschland. „Derzeit hat die Hälfte der Personen Migrationshintergrund“, sagt Manuela Sacherer, eine der beiden Vorsitzenden von „Schwimmen für alle Kinder“. Wie eng die Bindung ist, lässt sich daran ablesen, dass die meisten Schwimmlehrer und -lehrerinnen auf eine Aufwandsentschädigung verzichten.
Manuela Sacherer ist voll des Lobes für Ansam Audi. „Sie kann einfach alles, ist unglaublich zuverlässig und kommt wirklich mit den verschiedensten Menschen klar.“ Nur bei ihrer eigenen Mutter hat Ansam auf Granit gebissen: Sie wollte wirklich nicht schwimmen lernen erzählt Ansam. Zuletzt hat sie in Mössingen eine Gruppe von Frauen mit Fluchterfahrung das Schwimmen beigebracht. „Am ersten Tag wollten sie gar nicht so richtig ins Wasser. Aber ich war mir sicher, dass sie mit dem Seepferdchen rausgehen“, erzählt Ansam. Sie hat recht behalten.
INFO: „Schwimmen für alle Kinder“
„Schwimmen für alle Kinder“ wurde 2015 auf Initiative von Dagmar Müller gründet und ist ein Projekt im Rahmen des Vereins „Bündnis für Familie Tübingen“. Ziel war es, Kindern aus Flüchtlingsfamilien und anderen sozial benachteiligten Familien, kostenlosen Schwimmunterricht zu geben. Das Angebot richtet sich speziell an Kinder und Jugendliche mit KreisBonusCard. Kurse gibt es mittlerweile nicht nur im Tübinger Frei- und den Hallenbädern, sondern auch in Mössingen, Rottenburg und Ammerbuch. Wurden anfangs 30 Kinder pro Jahr unterrichtet, so bringen heute 38 Ehrenamtliche 400 Kindern und Jugendlichen Schwimmen bei. Sieben von ihnen haben einst selbst bei der Initiative schwimmen gelernt. Die Mitglieder kommen aus 13 Ländern und sprechen 25 Sprachen.
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