Wolfgang Sannwald, 2006
Als „Neckarsparta“ galt einst manchem Reisenden Tübingen im Vergleich zu Freiburg, das den Titel des „Dreisam-Athen“ führen durfte. Neben der streng disziplinierten protestantischen Landesuniversität diente der Neckar als stilistisches Mittel, um die Lage jenes reformierten „Sparta“ zu kennzeichnen. Darüberhinaus wies die Nennung des Neckars auf ein gestaltendes Element unserer Landschaft hin. Neben der Schwäbischen Alb und ihrem steilen Trauf ist es vor allem der Neckar, der über den Zeitraum von zwei Jahrtausenden hinweg als gleichbleibende landschaftliche Struktur die Geschichte unseres Raumes prägte. Heute halbiert dieser Fluß das Gebiet des Landkreises Tübingen nahezu, grenzt vom Landkreis Reutlingen im Norden das „Unteramt“ ab.
Straßen auf der Höhe
Wenn der Neckar historisch als natürliches Hindernis eine Rolle spielte, dann nicht so sehr wegen der Tiefe seiner Gewässer als vielmehr wegen der Unwegsamkeit seiner Uferbereiche. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein mäandrierten die Wasser wild hin und her, suchten sich bei jeder Frühjahrsflut ein neues Bett. Das morastige Schwemmland war schwer zu passieren, so daß sich Fuhrwerke im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eher über die Höhen bewegten. So umging die alte Landstraße von Ulm nach Tübingen, ein „uralter Reis- oder Reitweg“, das Neckartal in weitem Bogen. Sie führte zunächst im Steinlachtal bis zum Bläsiberg, erklomm dort die Härten und verlief dann weiter durch Wankheim, Jettenburg und Betzingen, bis sie schließlich die „Teufelsbrück“ am Reichenbach bei Rommelsbach erreichte. Ziel der Straße war übrigens Urach, nicht Reutlingen. Noch 1789 meinte ein für den Straßenbau zuständiger württembergischer Beamter, er sei nicht der Meinung, „daß Serenissimus (der Herzog) jemals zugeben werde, den Weg durch Reutlingen zu leiten“.
Eine im 17. oder 18. Jahrhundert neu gebaute Landstraße durchs Neckartal nach Kirchentellinsfurt und von dort aus weiter über Sickenhausen bis zur Teufelsbrücke, welche die Distanz in etwa halbierte, geriet an der „Enge“ kurz vor Kirchentellinsfurt immer wieder unter den Einfluß des Neckars. Hier trat das oft reißende Gewässer in einer Schlingenbildung besonders nahe an den Steilhang der Härten heran und knabberte immer wieder am Fahrweg. Noch 1783 entstanden „größere Kosten … zu Reparirung des höchst verdorbenen Wegs gegen Urach die Enge genannt“.
Reutlinger zahlten doppelt
Flüsse machten sich also besonders als Verkehrshindernisse bemerkbar. Der Neckar bot nur an wenigen Stellen günstige Gelegenheiten zur Überquerung. An einer solchen Furt wurden Lustnau und später Tübingen gegründet. Durch die „Tälinsfurt“ unterhalb der heutigen Gemeinde Kirchentellinsfurt konnten Reisende die Echaz überqueren. In den genannten Orten entstanden auch die ältesten Brücken über den Neckar. Für Lustnau gibt es sogar archäologische Hinweise auf eine Brücke aus der Römerzeit. Im Falle Tübingens war die Eberhardsbrücke jahrhundertelang ein entscheidender Standortfaktor. Kirchentellinsfurt kam erst 1770 zu einer Neckarbrücke. Die Zimmerleute erstellten sie „im Neckhar öfters mit größter Lebensgefahr“. Reutlingen hatte sich an dem Bau zwar interessiert gezeigt und „beständig“ einen finanziellen Beitrag in Aussicht gestellt. Wegen dem „alle Jahr veränderten Regiment“ im Stadtrat blieben die Zuschüsse jedoch aus. Schließlich wurde es den Kirchentellinsfurtern zu dumm. Sie erhoben von den Reutlingern als „ohnehinige Ausländer“ den doppelten Brückenzoll, wenn sie das Bauwerk passieren wollten.
Flußübergänge hatten eine enorme politische Bedeutung. Wo es gelungen war, Flüsse als natürliche Grenze zu überwinden, entstand häufig eine besonders intensive Verklammerung zwischen den beiden zusammengefügten Teilen. Man denke nur daran, wie sich im Falle Tübingens am jenseitigen Ufer eine Vorstadt bildete oder an Rottenburg und Ehingen. Mit den Flußübergängen hängt es wohl in erster Linie zusammen, daß der Neckar in unserem Raum zwar kommunalpolitisch als Trennlinie wirkte, indem er mitunter in die Grenzziehung von Gemeindemarkungen einbezogen wurde, hingegen bei der Grenzziehung zwischen den neuzeitlichen Territorien so gut wie keine Rolle spielte.
Dies, obwohl sich das natürliche Hindernis als trennende Grenze durchaus angeboten hätte. Nicht umsonst ließ das Herzogtum Württemberg im 18. Jahrhundert dem Flußlauf entlang einen regelrechten Kordon von Schilderhäuschen anlegen, als man wie bei einer Treibjagd den Bezirk nach Wehrpflichtigen durchsuchte. Offenbar reagierte der Neckar etwas ungehalten über diesen Mißbrauch seines Laufs als Grenze und schwemmte die Schilderhäuschen hinweg.
Dämme gegen die Naturgewalt
Nicht nur in diesem Fall, sondern vor allem bei wertvollem Ackerland war es immer wieder „erbährmlich ahn zu sehen …, was vor häfftigen Schaden mit Überschwemmung und Zerreussung der Guther“ der Fluß anrichtete. Ebenso zahlreich wie die Klagen über Hochwasser sind die Versuche, der Naturgewalt Einhalt zu gebieten. Bereits 1632 bauten die Hirschauer Dämme am Neckar, um ihr Ackerland zu schützen. Dadurch geriet das Gewässer aber so sehr aus seinen Bahnen, daß es von vorher 196 Meter auf nur noch 56 Meter an den Kilchberger Schloßgarten herankam und jetzt dort über 70 Morgen Ackerland wegriß.
Erst unter Leitung des hohenbergischen Landvogtes Anton von Blanc wurde der Neckar zwischen 1779 und 1786 oberhalb Tübingens kanalisiert. Am Ende blieb der uns bekannte begradigte Flußlauf übrig. Noch heute sind die Konturen der Schwemmdämme des einst mäandrierenden Neckars bei Kiebingen und Bühl im Ackerland zu erkennen. „Im Beisein einer unbeschreiblichen Volksmenge“ wurde der Neckar schließlich in sein neues Bett eingelassen. Die Anwohner feierten bei der Einweihung des neuen, sieben Kilometer langen Flußbettes ein wahres Volksfest. 378 Morgen landwirtschaftlicher Nutzfläche hatte man der Naturgewalt abgetrotzt. Hochwasser nahmen aber noch 1824, 1873 und 1882 ein solches Ausmaß an, daß die weite Ebene zwischen Rottenburg und Tübingen fast ganz überschwemmt war und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neue Schutzbauten errichtet werden mußten. Tübingen, ihre erhöhte Lage schützte die Stadt vor dem Neckar hinreichend, führte eine große Neckarkorrektion erst zwischen 1906 und 1910 durch.
Strom aus dem Neckar
Der Neckar war nicht nur eine feindliche Naturgewalt, er bot auch Vorteile. Als Energielieferant hatte er schon seit dem Bau der ersten Mühlen im Mittelalter eine bedeutende Rolle gespielt. Allerdings zogen die Mühlenbetreiber in aller Regel harmlosere Gewässer vor, hatte der Neckar ihnen zur Lehre doch die Rottenburger Distelmühle weggespült. Wegen der Antriebskraft, die er lieferte, blieb aber auch der Neckar ein attraktiver Wirtschaftsstandort.
Anläßlich der großen Tübinger Neckarkorrektion entstanden weitere Einrichtungen, um den Fluß als Energielieferanten nutzen zu können. Bei Kiebingen (1910), unterhalb von Tübingen (1910) und an der Rappenhalde (1929) wurden Staustufen angelegt und Kraftwerke gebaut.
Holzflöße nach Cannstatt
Größere wirtschaftliche Bedeutung erlangte der Neckar auch als Transportweg. So nutzten ihn an seinem Oberlauf Waldbesitzer wie der Horber Spital zur Lieferung von Bau- und Brennholz in die Verdichtungsräume um Esslingen, Cannstatt, Stuttgart und Heilbronn. In Neckartenzlingen erinnert ein Denkmal an das gefahrvolle Gewerbe der Flößer. Vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg florierte die Flößerei, die erst am Ende des 19. Jahrhunderts moderneren Transportformen Platz machte.