Vor etwa 330 Jahren siedelte sich der erste Vorfahr der Familie Kahn, Moses HaKohen in dem Dorf Baisingen an. Baisingen gehört seit 1972 zur Stadt Rottenburg und zum Landkreis Tübingen. In Tübingen, so Dr. Kahn, kenne man Baisingen vor allem wegen seines Bieres. 80 Jahre vor dem Baisinger Löwenbräu sei bereits ein Kahn in Baisingen nachweisbar. Überhaupt erst dorthin kam Moses HaKohen, da jüdische Menschen bereits im Mittelalter und auch in den späteren zeitlichen Epochen stigmatisiert, exkludiert und diskriminiert wurden. Als Jude konnte man damals für Geld einen sogenannten Schutzbrief erstehen, der zur Ansiedlung in einer bestimmten Ortschaft befähigte. Für die verwaltenden Autoritäten und die jüdischen Menschen war dies „eine Win-Win-Situation“, wie Dr. Kahn erzählte: Die Herren des Landes nahmen zunächst Geld durch den Verkauf des Schutzbriefes ein und dann kontinuierlich durch die gezahlten Steuern der jüdischen Familien, die sich nun auf dem Land der Herren niederlassen durften.
Die jüdischen Familien konnten dafür einen Ort zum Leben finden, an welchem sie nicht sanktioniert oder vertrieben wurden. Im Laufe der Zeit siedelten sich mehr und mehr jüdische Familien in Baisingen an und es entstand ein Friedhof und eine Synagoge. Eine weitere positive Entwicklung für Juden in Württemberg war es, dass König Friedrich von Württemberg unter der Herrschaft Napoleons ab dem 15. Oktober 1806 alle Konfessionen rechtlich gleichstellte. Die Menschen in Württemberg reagierten darauf aber gelegentlich mit Angst, wodurch 1848 ein Pogrom in Baisingen stattfand. Als „Judenkrawall von Baisingen“ ging dieses Pogrom in die Geschichte ein, doch durch das Gesetz wurden die wütenden Täter aus Baisingen verfolgt und zur Rechenschaft gezogen – eine besondere Erfahrung für die jüdischen Familien zu der Zeit, die sich selten bis nie des Schutzes durch das Gesetz sicher sein konnten.
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten und die Anfänge erneuter Verfolgung
Nach dem sogenannten „Judenkrawall von Baisingen“ und der daraus resultierenden Verfolgung der Täter durch das Gesetz lebten die jüdischen Familien in Baisingen nahezu 200 Jahre in Frieden in dem Dorf. Bis in die 1920er-Jahre gab es keine größeren strukturellen Gewaltvorfälle gegen jüdische Mitmenschen in Baisingen. Das Erste, was dann von der Hitler-Partei NSDAP ausging, schien unauffällig, wie ein Verwaltungsakt: Zunächst wurden Meldebögen über ansässige jüdische Familien beantragt, wie viele Jüdische Menschen wohnten wo im Dorf? Danach folgten weitere Meldebögen: Besitz, Heim, Vermögen, Kinder und so weiter. Dass das Sammeln dieser Informationen in späterer Verfolgung, Vertreibung, Ermordung und Raub münden würde, konnten oder wollten die lokalen Autoritäten nicht erahnen. Graduell nahm die Ausgrenzung wieder zu und als nächstes durften jüdische Menschen nicht mehr an den Viehmärkten teilnehmen, da ihnen die Handelslizenzen entzogen worden waren. Harry Kahn, Vater des heute Vortragenden Fredy Kahns war ein renommierter Viehhändler in der Region und sogar weit darüber hinaus. Die Sanktion der Nationalsozialisten betraf ihn damit direkt – aber zu seinem Glück nicht nur ihn: Er konnte nicht mehr zu den Viehmärkten gehen und Geld verdienen, aber auch die nicht-jüdischen Familien litten maßgeblich darunter. Sie kauften oder verkauften ihr Vieh an Harry und konnten dies nun nicht mehr tun. Hatte ein Kaufinteressent nicht genug Bargeld zur Verfügung, so nahm Harry Kahn eine Anzahlung von ihnen und die Käufer konnten den Rest der Schuld begleichen, sobald das gekaufte Vieh Erzeugnisse und somit Geld abwarf. Die meisten der nicht-jüdischen Viehhändler boten etwas derartiges nicht an. Also protestierten sie und erreichten eine vorübergehende vordergründige Minderung, Harry Kahn durfte wieder an den Viehmärkten teilnehmen.
Hinter den Kulissen allerdings veränderte sich nichts. Das Ausmaß der Verfolgung nahm weiter zu und gipfelte schließlich in der Reichspogromnacht 1938. Die Synagoge in Baisingen wurde zerstört und niedergebrannt, jüdische Familien aus ihren Häusern vertrieben, misshandelt und ihr Eigentum geraubt oder geschändet. Der Bruder Harrys, Siegfried Kahn, bekam von seinen Eltern Geld für die Flucht. Er floh nach England und seine Nachfahren leben dort bis heute und halten Kontakt zum deutschen Teil der Familie Kahn. Harry selbst konnte sich der Verfolgung nicht entziehen. Er und seine erste Frau, Irene wurden zunächst 1941 nach Riga verschleppt, Harry dann nach Theresienstadt im heutigen Tschechien und in noch weitere Konzentrationslager des NS-Regimes. Harry wurde von seiner Irene getrennt und sah sie nicht mehr wieder. Die Großmutter Fredy Kahns, Klara Kahn wurde 1941 in Riga ermordet, zusammen mit Irene. Ihr Vater Jakob Kahn wurde im stattlichen Alter von 93 Jahren ebenfalls in Theresienstadt ermordet. Insgesamt Neun Konzentrationslager durchlitt Harry Kahn und wurde schließlich mit einem Gewicht von 37 Kilogramm in Theresienstadt befreit.
Rückkehr in ein Scherbenmeer
Harry Kahn überlebte und kehrte zurück in seine Heimatort Baisingen, nun jedoch ohne Familie. Sein gesamtes Hab und Gut war von den Beamten des NS-Regimes genommen und versteigert worden. „Sogar der Nachttopf meiner Oma war für eine Reichsmark versteigert worden“ berichtete Fredy Kahn. Laut Gesetz standen den Verfolgten jüdischen Menschen Wiedergutmachungsleistungen zu, die jedoch schwierig einzufordern waren. Das Haus der Familie war leergeräumt worden. Um Reparationen bekommen zu können musste Harry Kahn den Beamten des Landratsamts Horb nachweisen können, was er einmal besessen hatte. Er musste Zeug*innen suchen, die den Beamten versichern konnten, dass Harry exakt den Gegenstand besessen hatte, für den er Wiedergutmachung verlangte. Die Beamten im Amt allerdings waren genau dieselben Beamten, die seinen und den Besitz seiner Familie geraubt und versteigert hatten. Sie hatten jeden kleinsten Gegenstand akribisch dokumentiert, den sie nahmen und verkauften, dennoch verlangten sich Nachweise von Harry – aus Schikane.
Von 20 jüdischen Gemeinden in Baden-Württemberg vor dem Krieg war nur noch eine übrig geblieben, nämlich die in der Landeshauptstadt Stuttgart. In der Folge brachte sich Harry Kahn in der hiesigen jüdischen Gemeinde ein und lernte seine zweite Ehefrau kennen. Jeanette Karschinierow durchlitt ebenfalls Theresienstadt. Auch ihr Vater verstarb dort unter den unmenschlichen Lebensbedingungen kurz vor der Befreiung. Jeanette und Harry waren sich in Theresienstadt begegnet und fanden sich in Stuttgart in der jüdischen Gemeinde wieder. 1946 heirateten Jeanette und Harry in Baisingen standesamtlich und 1947 wurde Fredy Kahn geboren, im selben Jahr wie die Bundesrepublik.
Kindheitserinnerungen
Was hat Dr. Fredy Kahn in seiner Kindheit bewegt? Auch darüber sprach er im Landratsamt. Seine Kindheit als Ganzes bezeichnet er als „paradiesisch“. Seine Eltern stritten sich selten, bestraften ihn nicht drakonisch und gaben ihm immer all ihre Liebe. Als Kind begriff er das nicht so ganz, aber er fand einige Dinge seltsam. Seine Eltern baten ihn wieder und wieder darum, in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen und er war auch oft melancholisch traurig, Heute – nach einem ganzen Leben als Mediziner und Hausarzt ordnet er dies als transgenerationelle Traumatisierung ein.
Als Kind wuchs Fredy Kahn im Baisinger Dorfleben auf. Er berichtete, wie es Sonntags immer ein Grund zur Freude war in die Kirche des Dorfes zu rennen, bevor die Glocken zum Gottesdienst geläutet wurden. Er und seine Freunde machten sich einen Wettbewerb daraus, wer zuerst beim Glöckner an der Kirche sein würde, denn wer schnell war durfte auch an den langen Seilen ziehen und die massiven Metallglocken zum Klingen bringen. Fredy selbst war wohl ein schneller Läufer, wodurch er regelmäßig in den Genuss kam, sich an das Seil hängen zu dürfen. Eines Sonntags allerdings – es war wie immer kurz vor 12 Uhr mittags und er hatte sich gegen seine Freunde durchsetzen können, hatte die Hände am Seil der Kirchenglocke und wartete, dass er das Signal zum Läuten bekam – packte ihn eine Hand im Nacken, als er in dem kleinen, dunklen Bereich unter den Glocken stand. Die Hand zog ihn wieder heraus aus dem Bereich in das Tageslicht und ein Mesner scheuchte ihn fort: „Ihr habt hier nichts verloren, ihr habt den Heiland getötet!“ war die Begründung des Mannes, der ihm das Läuten der Glocken untersagte. Missmutig musste der junge Fredy diesen Tag einem seiner Freunde das Seil überlassen und kehrte heim, auch wenn er absolut keine Ahnung hatte, warum und was die Worte des Mannes bedeuteten, der ihn verjagt hatte. Er erzählte seinem Vater Harry nie von dem Vorfall, vermutlich aus Schreck. Heute sagt er allerdings es war gut so, nicht zuletzt war es „besser für die Gesundheit des Mannes“.
Er berichtete auch von mehr Ereignissen aus seiner Lebenszeit, bei denen er bedroht wurde oder Vorbehalte seiner Mitmenschen wahrnahm.
Der Abschied aus Baisingen
Vor einigen Jahren, in den 90er-Jahren, schließlich löste sich Fredy Kahn von Baisingen. Die Ortschaft hat immer noch einen festen Platz in seinem Herzen und seinen Gedanken, als alte Heimat, als Ort, in dem das Elternhaus stand und in dem er zur Schule gegangen ist, sonntags in die Kirche gerannt ist und in dem er seine Kindheit verbracht hat. Die dauernde Fixierung an Baisingen wollte er aber lösen und entschloss sich dazu, sein Elternhaus zu verkaufen. Die ersten Interessenten waren eine türkische Familie. Als er für den Verkauf einmal wieder im Dorf war, sprach ihn auf der Straße eine alte Baisingerin an: „Was hab ich da gehört Fredy, du verkaufst dein Haus an einen Türken?“, fragte die alte Dame in tiefstem schwäbischen Dialekt und mutete empört und fassungslos an. Fredy beschrieb, dass er seinen Ohren kaum trauen konnte und erwiderte während er mit dem Finger nacheinander auf mehrere Häuser in der Nähe zeigte, merklich aufgebracht: „Da, dort, dort und da wohnen jetzt schon türkische Familien. Weißt du, wer da vorher gelebt hat? Juden! Reicht es jetzt nicht einmal?!“ – Die Baisingerin schaute ihn ein paar Sekunden fragend an, drehte sich um und ging, ohne etwas zu erwidern.
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Eine Videoaufzeichnung des kompletten Vortrags steht hier zum Nachschauen zur Verfügung.
Von David Firschau

