28. September 2025

Die Regenhymne von Badr as-Sayyab – Dichtung, aus Schmerz geboren

Von Sameer Ibrahim

Das Gedicht „Anschūdat al-Maṭar“ (Die Regenhymne) gilt als eines der wichtigsten Werke der modernen arabischen Lyrik. Der irakische Lyriker Badr Schakir as-Sayyab schrieb es 1953 in Kuwait im Exil, wohin er vor politischer Verfolgung geflohen war.

„Deine Augen sind zwei Palmenhaine im Morgenrot
Zwei Balkone, von denen der Mond sich entfernt
Wenn deine Augen lächeln, belaubt sich der Wein
Und Monden gleich tanzen die Lichter im Fluss
Sanft kräuselt ihn das Ruder im Morgengrauen
Pulsierende Sterne in der Tiefe deiner Augen“
(Deutsche Übersetzung von Stefan Weidner 1995)

So beginnt „Die Regenhymne“, die zuerst 1954 in einer Beiruter Zeitschrift erschien und zunächst unbeachtet blieb. Bald jedoch gewann das Gedicht enorme Resonanz und wurde zum Meilenstein und Vorbild der modernen arabischen Lyrik und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Frei von Reim und metrischen Konventionen

Das lag zunächst daran, dass der Autor sich von den Zwängen der arabischen Reim- und Metriktraditionen befreite, um als „Pionier der freien Verse“ die arabische Lyrik an die moderne Lyrik der Weltliteratur heranzuführen. Vor allem aber ermöglicht das Gedicht eine Fülle von Interpretationen und symbolischen Deutungen, die Leserinnen und Leser bis heute unmittelbar berührt.

So weist Sayyab in seinem Gedicht dem Regen zwei verschiedene Rollen zu: den barmherzigen Regen, der Erde und Saat belebt – Symbol des Lebens und der Fruchtbarkeit seit Beginn Hochkulturen im mesopotamischen Zweistromland vor 5 000 Jahren; zum anderen den verfluchten Regen, der Zorn, Zerstörung und Tod bringt, weil er nicht aufhört.

Vielfalt der Interpretationen
Gleichzeitig lässt sich der Regen auch als Symbol der erhofften Erneuerung, der Revolution gegen die autokratischen Regime des Irak und anderer arabischer Staaten lesen. „Die Regenhymne“ drückt damit auch den kollektiven Schmerz der arabischen Menschen und ihre Sehnsucht nach Freiheit aus.
Aber auch ganz persönliche Interpretationen sind möglich: Etwa der Regen als Symbol der Geliebten mit den Augen der Geliebten als pulsierende Sterne. Im weiteren Verlauf des Gedichts wird der Regen mit der Milch aus der Mutterbrust verglichen und damit könnte der Text auch für die Trauer um die Mutter stehen, die Sayyab schon im Alter von sechs Jahren verlor, ein lebenslanges Trauma für ihn. Schließlich wird auch der Irak im Lied besungen und die zahllosen Palmen, die symbolisch für den Irak stehen (siehe dazu tun24060509). Das Lied drückt damit auch das Heimweh des Dichters nach dem Irak im Exil aus.
Diese Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten macht den besonderen Reiz des Gedichts aus, es wird so zu einem leidenschaftlichen Gesang, dem manche Kritiker eine Schönheit zuschreiben, die selbst heiligen Texten vergleichbar sei.

Kurzes Leben – lange Wirkung
Doch wer war dieser Badr Schakir as-Sayyab? Er wurde am 1926 im Dorf Jikur bei Basra im Südirak als Sohn eines Dattelbauern und Hirten geboren. Englische Sprache und Literatur studierte er in Bagdad und arbeitete zunächst als Lehrer und später im Staatsdienst. Schon in jungen Jahren war er politisch sehr aktiv, in leitender Funktion der kommunistischen Partei, musste daher ins Exil gehen, kehrte aber in den Irak zurück. Seine letzten Jahre waren von Krankheit geprägt. Sayyab starb 1964 mit nur 37 Jahren im Amiri-Krankenhaus in Kuwait an amyotropher Lateralsklerose (ALS), eine nicht heilbare Erkrankung des Nervensystems, die zu völliger Muskellähmung führt. Sein Leichnam wurde nach Basra überführt. An einem kalten Wintertag, an dem der Regen nicht enden wollte, fand in seinem Heimatdorf Jikur eine schlichte Beisetzung statt: Nur wenige Verwandte und Nachbarn nahmen Abschied – ein stilles Ende für einen großen Dichter, dessen Werk aus tiefem Schmerz geboren wurde.

Das ganze Gedicht findet man in englischer Übersetzung unter: Washington Square Review | Badr Shakir al-Sayyab

Der arabische Text im Internet: Ad Diwan | Poem

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