21. Januar 2025

Grabsteine: eine Tradition aus dem Vorderen Orient

Von Youssef Kanjou
Es ist nicht genau bekannt, wann und warum Menschen erstmals begannen, das herzustellen, was heute als Grabstein bezeichnet wird: also ein Stück Stein, auf dem Name und Sterbedatum eines Menschen geschrieben stehen. Die ersten bekannten Schriftzeugnisse auf Grabsteinen wurden jedenfalls in der aramäischen Sprache des Vorderen Orients verfasst. Diese Tradition hat sich in der Folge in verschiedenen Kulturen und Religionen verbreitet. Das gilt bis heute zu den Gräbern der Neuzeit auf der ganzen Welt.
Die aramäischen Grabsteine aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. stellen den ältesten archäologischen Beleg für diese Tradition dar. Sie scheinen aus der Entwicklung der aramäischen Schrift und der religiösen Rituale für die Toten einerseits und der Entwicklung der Kunst des Bearbeitens von vulkanischen Basaltsteinen andererseits hervorgegangen zu sein. Ein aramäischer Grabstein enthielt nämlich ein ungefähres Bild des Verstorbenen mit einer Inschrift, die den Namen und das Leben des Verstorbenen sowie religiöse Informationen und später das Datum und das Alter des Verstorbenen umfasst. Dies ist zum Beispiel bei den in Nayrab östlich der Stadt Aleppo in Syrien entdeckten Grabsteinen der Fall.
Das gilt für den Grabstein für einen Priester namens Sin-zir-Ibni (Priester des Mondgottes). Die aramäische Inschrift enthält den Namen des Priesters und den Namen der Stadt, in der er gestorben ist, nämlich Nayrab, die bis heute existiert. Außerdem enthält die Inschrift in den letzten Zeilen eine Drohung gegen jeden, der das Grab beschädigt oder plündert. Es wird erwähnt, dass alle Götter (der Inschrift zufolge scheinen es vier zu sein, die damals verehrt wurden) ihn rächen würden: Der Übeltäter würde brutal getötet und seine Nachkommen ausgelöscht werden. Wenn er jedoch das Grab bewahre, würden die Götter ihn beschützen. Diese Art von Drohung wurde auch in den folgenden Jahrhunderten weiterhin verwendet.
Ein zweiter Grabstein ist für einen Priester namens Sigabbor (Priester des Mondgottes). Die Inschrift enthält auch eine religiöse Aussage, nämlich den Namen des Gottes, den er verehrte, und einen Dank an diesen Gott für die Verlängerung seines Lebens und die Gewährung eines schönen Namens. Sie nennt auch den Ort des Todes, beschreibt die Rituale nach seinem Tod und erwähnt, dass die Menschen nach seinem Ableben heftig um ihn weinten. Außerdem enthält die Inschrift auch wieder die Drohung wie beim ersten Grabstein.

Grabstein für den Priester Sigabbor (Priester des Mondgottes). Er wird sitzend dargestellt und nimmt eine Mahlzeit aus einer Schale ein, während ihm gegenüber ein Diener steht, der möglicherweise eine Fliegenklatsche hält, um Fliegen von ihm fernzuhalten! Foto: Ahmad Othman.

Die Gewohnheit, Gräber zu bestehlen und zu zerstören, war wohl schon damals weit verbreitet. Grabräuberei und -zerstörung geschahen hauptsächlich aus religiösen Gründen oder um die oft wertvollen Grabbeigaben wie Schmuck und teure Werkzeuge zu stehlen. Das war in vielen alten Kulturen üblich. Deswegen wurden in einigen Zivilisationen die Toten, insbesondere die Könige, an geheimen Orten begraben, wie es bei der altägyptischen Zivilisation der Fall war. Grabsteine wurden ursprünglich wohl nur für Geistliche und Könige verwendet und nicht für das allgemeine Volk.
In späteren Zeiträumen und Kulturen entwickelten sich die Grabsteine erheblich weiter, insbesondere in der syrischen Stadt Palmyra (erstes Jahrhundert n. Chr.), wo auch Aramäisch eine der Hauptsprachen war. Der Grabstein wurde zu einer Art persönliches Abbild für den Verstorbenen, indem er ein exaktes Porträt, besonders in seiner Jugend, darstellte. Die meisten Grabsteine wurden in inoffiziellem Aramäisch beschriftet, wobei der Name des Verstorbenen und der Ausdruck „O weh!“ hinzugefügt wurden. Die Grabsteine in palmyrenischer Sprache wurden „Nefesh“ genannt, was „Person“ oder „Seele“ bedeutet, das heißt, dass der Grabstein den Verstorbenen (den Körper) und seine Seele repräsentiert. Der Grabstein diente auch als materielles Zeugnis, das die Lebenden an die Toten erinnerte. Die Palmyrener glaubten, dass die Erwähnung des Namens und seine Präsenz den Schmerz des Verstorbenen lindern würde. (s. dazu mehr unter: tun21061503)
Aus diesem Grund florierten in Palmyra die Werkstätten zur Herstellung von (Toten)-Statuen. Es entstanden Familiengräber, in denen Grabsteine für alle Familienmitglieder aufgestellt wurden. Jedes Grab in Palmyra stellt daher ein Familienmuseum oder eine Galerie von Familienporträts dar. Deshalb wurden viele dieser Gräber in der Vergangenheit und in der Gegenwart geplündert, da sie wertvolle Statuen und Funde enthalten.
Im Mittelalter entwickelten sich die Grabsteine in den islamischen und christlichen Kulturen weiter. Neben den Namen der Verstorbenen und religiösen Ausdrücken traten künstlerische Merkmale auf den Grabsteinen in den Vordergrund und wurden zu einer gängigen Erscheinung. Die Grabsteine wurden zu einem Bereich für künstlerischen Wettbewerb und Ausdruck des sozialen Status, sei es durch die Darstellung der Statuen der Verstorbenen in der christlichen Kultur oder durch die kunstvolle Gestaltung der arabischen Schrift im Islam.
Grabsteine sind nicht nur Erinnerungen an die Verstorbenen, sondern auch unvergängliche und reichhaltige historische Dokumente. Sie bieten ein Fenster zur alten Welt und enthüllen die Komplexität der Gesellschaften und ihre Interaktionen mit benachbarten Kulturen und Zivilisationen.
Insgesamt blieben die grundlegenden Informationen, die die Aramäer auf ihre Grabsteine geschrieben haben, bis heute in Gebrauch. Trotz der grundlegenden Unterschiede in Kulturen wie Sprache und Religion ist dieses Phänomen und dieser Brauch eine weltweite kulturelle Tradition. Vielleicht wurde sie im Nahen Osten begründet, sie hat sich aber in der ganzen Welt verbreitet, ähnlich wie alle technischen Entdeckungen, die die Menschheit heute teilt. Dies zeigt auch, dass kultureller Austausch und Transfer seit den frühesten Zeiten weit verbreitet waren.

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Grabstein Sin-zir-Ibni (Priester des Mondgottes). Er wird als Mann mittleren Alters dargestellt, trägt ein traditionelles Gewand und einen Turban und hält etwas in der Hand. Um seinen Kopf herum ist eine 14-zeilige aramäische Inschrift eingraviert. Foto: Ahmad Othman.
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