23. Dezember 2025

Kulturelle Entwicklung und Migration gehören zusammen

Tagesaktuelle Meldungen zur Situation von Geflüchteten und solche mit lebenspraktischen Ratschlägen für den Alltag bildeten und bilden bis heute die Basis von tuenews INTERNATIONAL – sei es zunächst in den Printversionen als auch später dann online. Daneben gab es aber schon früh auch kulturelle Themen: Dabei ging es darum, die Kulturen der Herkunftsländer anderen Geflüchteten und auch deutschen LeserInnen besser verständlich zu machen. Dabei wurde dann auch das interkulturelle Aufeinandertreffen dieser kulturellen Gewohnheiten mit denen im Gastland Deutschland thematisiert. Solche längeren Hintergrundbeiträge wurden in den Magazinen behandelt. So ging es beispielweise ausführlich um die Situation von muslimischen Kopftuchträgerinnen, den Diskriminierungserfahrungen, die diese in der deutschen Gesellschaft erleben. Drei muslimische Frauen (zwei mit Kopftuch, eine ohne) interviewten dazu eine Islamtheologin, um zu erfahren, was der Koran eigentlich genau zur Kopftuchfrage sagt. Ein anderes Beispiel: Wie kommen die Geflüchteten mit der komplexen deutschen Brotkultur und ihren verwirrenden Bezeichnungen klar? „Es gibt einen Witz, der besagt, dass es in Deutschland Hunderte von Brotsorten gibt, die meisten heißen ‚das da‘, direkt gefolgt von ‚Ne, das daneben‘.“ Das erzählte ein renommierter Bäcker in einem Interview mit tuenews INTERNATIONAL. Auch die jährlich wiederkehrende Zeit des Ramadan war immer wieder Gegenstand erhellender Hintergrundberichte.
Bei diesen längeren Beiträgen erwies es sich oft als hilfreich, Experten zu befragen, wenn die Suche nach verlässlichen Quellen nicht so einfach war. So hat die Redaktion immer wieder Kontakte mit WissenschaftlerInnen und ExpertInnen in der Praxis gesucht. Das Interview und die Umsetzung eines Interviews in einen Text wurden dadurch zum gewohnheitsmäßigen journalistischen Umgang mit komplexen Themen.

Neu in der Redaktion: Archäologische und numismatische Kompetenz

Eine ganz neue Qualität erfuhr der Bereich „Kultur“ in der Coronazeit Ende 2020 und Anfang 2021, als zwei neue Personen in Kontakt mit tuenews INTERNATIONAL traten: Youssef Kanjou, syrischer Archäologe und Anthropologe und früherer Direktor des Archäologischen Nationalmuseums in Aleppo, wurde Mitglied der Redaktion und Stefan Krmnicek, österreichischer Numismatiker an der Universität Tübingen, schrieb regelmäßig Gastbeiträge über antike Münzen aus den Herkunftsländern im Osten, die sich im Besitz des Museums der Universität befinden. Damit wurde das Thema „Kulturen“ zu einer echten zweiten „Produktlinie“ von tuenews INTERNATIONAL, wissenschaftlich untermauert und zugleich verständlich geschrieben.
In den ersten Beiträgen von Youssef Kanjou wurde beispielsweise behandelt, wie schon in der Steinzeit das enge Zusammenleben von Mensch und Tier zu den ersten Epidemien führte, dass mit der Entdeckung einer 2700 Jahre alten Weinpresse im Libanon die Erfindung des Weinbaus im Nahen Osten belegt werden konnte. Oder dass schon vor 6000 Jahren der erste Krieg auf syrischem Boden stattfand, die bisher weltweit älteste Erwähnung einer kriegerischen Auseinandersetzung.
Antike Münzen gelten meist als eine eher trockene und schwer zu dechiffrierende Angelegenheit. Stefan Krmnicek zeigte mit seinen Texten, was man alles aus diesen Münzen lernen kann: etwa dass „Philippus der Araber“, aus dem Gebiet des heutigen Syrien stammend, römischer Kaiser werden konnte, eine Syrerin sogar Großmutter von zwei römischen Kaisern war. Aus einer Münze aus dem Hindukusch lässt sich ablesen, dass ein griechisches Königreich sich bis in den Norden Afghanistans erstreckte. Eine Münze aus Gaza-Stadt belegt, dass der Ort in der Antike eine der wichtigsten Hafenstädte der Region für den Weihrauchhandel aus dem Inneren der Arabischen Halbinsel war.

Brotkultur in Deutschland. Foto: tuenews INTERNATIONAL / Oula Mahfouz.

Viele Klicks für Migration als Motor der kulturellen Evolution

Besonders erstaunlich war dann, dass diese Artikel zur Kulturgeschichte die höchsten Abrufzahlen aller Artikel aufwiesen und jeweils mehrere zehntausend Mal angeklickt wurden. Es zeigte sich auch, dass sie besonders in arabischer und persischer Sprache weltweit rezipiert wurden, offenbar verbreitet durch soziale Netzwerke.
Im Laufe der folgenden Jahre entwickelte sich wie von selbst und ungesteuert eine Art „roter Faden“, eine thematische Konzentration auf Migration als treibender Motor der kulturellen Evolution. Natürlich war es keine Überraschung, dass in den antiken Hochkulturen des Zweistromlandes an Euphrat und Tigris die erste Schrift und auch das erste Alphabet und die ersten Zahlensysteme und musikalischen Kompositionen entstanden, dass hier die ersten Schulen der Welt gegründet wurden und neue Traditionen wie die von Grabsteinen etabliert wurden. Alle diese kulturellen Errungenschaften fanden ihren Weg nach Westen in das heutige Europa.
Aber schon Jahrzehntausende früher zogen die ersten modernen Menschen der Gattung „homo sapiens“ aus dem Nahen Osten nach Europa weiter, nachdem sie sich dort von Afrika herkommend angesiedelt hatten. Vor etwa 10.000 Jahren wurde im Nahen Osten die Landwirtschaft „erfunden“ und damit die Sesshaftigkeit als neue Lebensform neben dem Nomadentum begründet und mit dem Bau gigantischer kultisch-religiöser Anlagen begonnen. Diese kulturelle Evolution wurde nicht, wie man früher annahm, über Handel und Austausch vorangetrieben, sondern durch die Migration vieler Menschen aus Anatolien nach Europa importiert – beginnend vor 8.000 Jahren und 2.000 Jahre später durch die sogenannten Steppenreiter aus Zentralasien fortgeführt. Dass diese Migrationsströme die genetische Ausstattung der heutigen Menschen in Mitteleuropa und damit auch deren helle Hautfarbe zu 90 Prozent bestimmen, sind ganz neue Erkenntnisse der Paläogenetik.

Münze aus Sidon mit dem Porträt von Julia Maesa und der Darstellung von Europa auf dem Stier, Tübingen Inv. II 1547/96 (https://www.ikmk.uni-tuebingen.de/object?id=ID10755).Foto: Stefan Krmnicek.

Andalusische Entwicklungshilfe und der Weg der Kaffeehäuser

Auch im Mittelalter setzte sich die Entwicklungshilfe aus dem Osten für Zentraleuropa fort: Die Ausbreitung des Islam im 8. Jahrhundert führt im südlichen Spanien zu einer 800 Jahre dauernden kulturellen Blüte im andalusischen Reich. Dessen innovative Entwicklungen in Hygiene und Medizin, Astronomie, Mathematik, Architektur, Landwirtschaft und Bewässerungssystemen prägten auch das mittelterliche Mitteleuropa. Aber auch nicht wegzudenkende Bestandteile des heutigen Alltagslebens wie Cafés sind ein Export aus dem Nahen Osten: Die ersten Kaffeehäuser gab es in Damaskus und Aleppo und nahmen dann ihren unaufhaltsamen Zug über Istanbul nach Europa. All diese historischen und kulturellen Entwicklungen und noch viel mehr lassen sich in Artikeln von tuenews INTERNATIONAL nachlesen.

Den Islam und die arabische Kultur verstehen lernen

Schließlich ist noch ein Themenbereich zu erwähnen, für den wesentlich die Redakteurin Oula Mahfouz, Arabischlehrerin aus Damaskus, verantwortlich ist. Sie setzte eine Serie von Artikeln dem verbreiteten geringen Wissen über die Religion des Islam und die Kultur der muslimischen Länder entgegen und spricht damit auch eine besondere Zielgruppe an, nämlich die interessierten deutschen Ehrenamtlichen, die in der Geflüchtetenhilfe aktiv sind.
Themen waren beispielsweise Khadijah, erste Frau des Propheten Muhammad, die Begriffe „Halal“ und „Haram“, die Regeln für die Ehe im Islam, aber auch „Damaskus: die Heimat von Rosen, Iris und Jasmin“, die arabische Kalligraphie oder die Erfindung des Schachspiels.

Von Michael Seifert

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