21. Oktober 2025

Mit KI die Keilschrift-Geheimnisse Babylons entschlüsseln

Von Youssef Kanjou

Ein Wissenschaftler-Team aus Bagdad und München hat einen 3000 Jahre alten, bisher unbekannten literarischen Text entdeckt. Es handelt sich dabei um eine vollständige Hymne über Babylon. Wie war das möglich? Hier sind die Hintergründe.
Die Entdeckung der Keilschrift im Jahr 3200 v. Chr. in Mesopotamien markierte einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte und teilte diese in zwei Phasen: In die Vorgeschichte ohne schriftliche Überlieferung, und die Geschichte mit schriftlicher Überlieferung. Im 19. Jahrhundert gelang es WissenschaftlerInnen erstmals, diese Schrift zu entschlüsseln. Seitdem wurden Hunderttausende von Keilschrifttafeln in alten Bibliotheken, beispielsweise im Irak und in Syrien, entdeckt. Diese Tafeln enthalten literarische und kulturelle Informationen, Gesetze, Handelsverträge, Mythen und andere Themen. Im Gegensatz zu einigen anderen alten Schriften ist die Keilschrift jedoch äußerst schwer zu entschlüsseln, und nur ein kleiner Teil davon wurde in moderne Sprachen übersetzt. Denn es gibt einen erheblichen Mangel an Spezialisten, die sie lesen können. Aus diesem Grund versuchen AltertumswissenschaftlerInnen seit ein paar Jahren, Künstliche Intelligenz einzusetzen, um diese Texte zu entschlüsseln und ihren Inhalt zu verstehen, indem sie ein spezielles digitales Archiv erstellen.

Antike Keilschriftbibliotheken
Bis heute wurden zahlreiche antike Bibliotheken mit Tausenden von Keilschrifttafeln entdeckt. Zu den bemerkenswertesten Beispielen zählen die Bibliothek von Mari im Osten Syriens am Euphrat, die etwa 25.000 Keilschrifttafeln aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. enthält, und die Bibliothek von Ebla südlich von Aleppo, die etwa 17.000 Texte aus der Zeit um 2300 v. Chr. umfasst. Die größten Bibliotheken wurden im Irak entdeckt, darunter die Bibliothek von Assurbanipal in Ninive (Mosul) mit etwa 30.000 Tontafeln aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. und die Bibliothek der antiken Stadt Babylon aus dem 18. Jahrhundert v. Chr.
In diesen Bibliotheken wurden Keilschrifttafeln in unterschiedlichem Zustand gefunden: Einige waren vollständig, andere in mehrere Teile zerbrochen oder stark beschädigt. Alle Texte wurden in Keilschrift in verschiedenen Sprachen und Dialekten verfasst, darunter Sumerisch, Akkadisch, Babylonisch und Assyrisch, was ihre Übersetzung extrem erschwert.
Die Zahl der bisher entdeckten Keilschrifttafeln wird auf etwa 500.000 geschätzt, aber nur 10 Prozent davon wurden übersetzt, was bedeutet, dass eine riesige Menge an Informationen noch unbekannt ist und auf Übersetzung und damit auf die Enthüllung der Geheimnisse der alten Königreiche Mesopotamiens wartet.

Erfolge der Künstlichen Intelligenz: die Hymne von Babylon
Mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz ist es einem Forscherteam aus dem Irak (Universität Bagdad) und Deutschland (Ludwig-Maximilians-Universität München) kürzlich gelungen, Dutzende verstreuter Fragmente von Tontafeln zu einem Gedicht aus der Zeit um 1000 v. Chr. zusammenzufügen. Dieses Gedicht von etwa 250 Verszeilen wurde in der Stadt Sippar nördlich von Babylon verfasst.
Ein Forscher des Instituts für Assyriologie der LMU erklärt das Vorgehen: „Mithilfe einer KI-gestützten Datenbank konnten wir 30 weitere Texte identifizieren, die zu der wiederentdeckten Hymne gehören – ein Prozess, der in der Vergangenheit Jahrzehnte gedauert hätte.“ Dank dieser zusätzlichen Texte gelang es dem Team, die auf der Tontafel geschriebene Hymne zu vervollständigen, da sie bisher Lücken aufwies.
Diese nun vollständige Hymne enthält eine literarische Beschreibung der Stadt Babylon, der damals größten Stadt der Welt, und ihrer Umgebung auf dem Höhepunkt ihrer Blütezeit, ein Loblied auf den Euphrat und ein umfassendes Bild des Lebens ihrer Bewohner – Männer und Frauen – sowie ihrer religiösen Überzeugungen vor etwa dreitausend Jahren. Die Hymne scheint über tausend Jahre lang kopiert und gelehrt worden zu sein, was auf ihre Bedeutung hinweist und vielleicht der Rolle der Nationalhymne in unserer modernen Zeit ähnelt. Zahlreiche Hinweise deuten darauf hin, dass dieser Text – bekannt als „Lied von Babylon“ – zu seiner Zeit so beliebt war, dass sogar Kinder ihn in der Schule abschrieben. Es ist überraschend, dass ein Text dieser Popularität bis heute unbekannt geblieben ist.
Professor Enrique Jiménez, Leiter des Projekts, erläutert: „Es scheint, dass der Autor der Hymne ein Babylonier war, der seine Stadt preisen wollte. Er beschreibt die Gebäude in der Stadt, aber auch, wie der Euphrat Frühling und grüne Felder bringt. Das ist überraschend, denn nur sehr wenige Beschreibungen der Natur sind uns aus Mesopotamien überliefert worden.“

Neue Erkenntnisse über die Rolle der Frauen in der antiken Hochkultur
Die Hymne enthüllt auch wichtige Informationen über die Frauen Babylons und ihre Rolle als Priesterinnen, die rituelle Reinheit und Bildung förderten. Diese mit Frauen verbundenen Aufgaben überraschten die Forscher, da sie aus keinen anderen Texten bekannt waren. Die Hymne bietet auch einen reichhaltigen Einblick in das Zusammenleben in der städtischen Gesellschaft und beschreibt die Einwohner der Stadt als respektvoll gegenüber Ausländern.
Es ist interessant zu sehen, dass die Keilschrift als erste Schrift vor etwa fünftausend Jahren im Nahen Osten entstand, dann im Laufe der Zeit verschwand und schließlich von Gelehrten aus Ost und West entschlüsselt wurde. Trotz enormer technologischer Entwicklungen und Fortschritte in verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen sind die meisten Geheimnisse der alten Zivilisationen immer noch unbekannt und warten auf weitere Entdeckungen. Gleichzeitig eröffnet nun die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern aus Ost und West, unterstützt durch Werkzeuge der Künstlichen Intelligenz, weite Horizonte, um weitere Geheimnisse der Vergangenheit zu lüften und neue Seiten der Menschheitsgeschichte zu beleuchten.
In diesem Video rezitiert Enrique Jiménez einen Teil der Hymne in der Originalsprache und erklärt zusammen mit dem irakischen Forscher Anmar A. Fadhil die Bedeutung der Hymne bis heute: YouTube | LMU München: Hymne an Babylon entdeckt
Weitere Informationen zum Projekt:
LMU | Hymne an Babylon entdeckt

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