von Nasir Serrikashkawij
„Patara bichi damekraga“ – die erste Zeile eines georgischen Volkslieds bedeutet: „Ein kleiner Junge hat sich verirrt.“ Wenn Maia es singt, vermittelt ihre Stimme Sehnsucht und Klarheit zugleich. Es ist ein Lied über das Suchen: Nach jemandem, nach etwas, einem Kind, einem Ort, vielleicht sogar nach sich selbst. Es beginnt in Georgien, aber wenn es von den Holzwänden eines Probenraums in Tübingen zurückhallt, wird es zu einem Lied über uns alle.
Für viele MusikerInnen im Raum beginnt in Tübingen ein neues Kapitel ihres Lebens. Doch an einem Freitagabend bei den Proben von TüFolk könnte man auch ganz woanders sein. Oder überall. Menschen kommen mit Instrumenten unter dem Arm: Oud, Geige, Akkordeon, Trommel, Ukulele. Die Begrüßungen sind auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Kurdisch, Arabisch und weiteren Sprachen. Einen offiziellen Anfang gibt es nicht, die Musik sammelt sich einfach und beginnt zu fließen.
Ein Kreis ohne Grenzen
TüFolk ist eine offene Musikgruppe für Weltmusik. Kein professionelles Ensemble, sondern ein wachsender Kreis. Geleitet wird die Gruppe von Cristobal und Maia. Cristobal stammt aus der chilenischen Küstenregion Valparaíso und lebt seit zehn Jahren in Deutschland, wo er als Musiker arbeitet; Maia, die aus Georgien kommt, kam ursprünglich als Studentin nach Berlin und ist in der georgischen Musiktradition verwurzelt.
Die Türen stehen für alle offen. Keine Aufnahmeprüfung. Keine festen Erwartungen. Nur ein gemeinsames Interesse: Zusammen Musik aus aller Welt machen. „Musik ist ein großartiger Weg, um Menschen besser zu verstehen“, sagt Cristobal. „Letztlich ist sie eine Sprache, mit der wir versuchen, komplexere Dinge zu begreifen, die man nicht so leicht erklären kann.“

„Als Ausländerin in einem neuen Land aufgenommen zu werden, das berührt mich sehr“, sagt Maia. „Wenn du etwas aus deiner Kultur mitbringst und plötzlich singen oder spielen es alle mit dir, wird so etwas Persönliches geteilt. Das ist kraftvoll. Das ist kostbar.“
Die Gruppe probt wöchentlich, baut ein Repertoire aus verschiedenen Kulturen auf, manchmal mit Hilfe von GastmentorInnen. Diese bringen Lieder und Stile aus ihren eigenen Traditionen mit. Diese Musikmentoren haben sich weitergebildet und die Methode gelernt, Musik allein nach dem Gehör und ohne Noten zu vermitteln.
Maia sagt: „Wir wollen, dass Menschen Stücke aus ihrer Kultur lehren. Ich würde nichts unterrichten, was nicht aus meiner Region kommt.“ Und weiter: „Denn es macht einen Unterschied. Es geht darum, Fragen zu beantworten und Dinge zu verwandeln.“
Ein Zuhause zwischen den Noten
Das Format ist nicht nur lehrreich, es berührt. Für Cecilia, eine Physikerin aus Süditalien, die nach einem Konzert im Dezember zur Gruppe kam, brachte TüFolk etwas Unerwartetes: Ein Gefühl von Zuhause. „Als ich nach Tübingen kam, kannte ich niemanden. Ich habe versucht, Leute kennenzulernen, aber es war schwer. TüFolk hat das verändert. Es ist nicht nur international, es ist auch lokal. Diese Mischung ist besonders.“
Dieses Gefühl von Verwurzelung taucht oft auf. Für Remon, 29 Jahre alt, aus Oberägypten und jetzt Student der Neurowissenschaft, war TüFolk ein Wendepunkt. „Ich hatte noch nie zuvor vor anderen gespielt“, sagt er. „Aber wir haben uns immer wieder gesagt: Wir machen Fehler, und das ist okay. Das hat uns befreit, um es zu genießen.“ Remon spielt Oud, eine Entscheidung, die in seiner Heimat nicht einfach war. „Ein Instrument zu tragen war ein Stigma. Aber irgendwann dachte ich, ich verstecke mich nicht mehr.“

In TüFolk entsteht eine Gemeinschaft, die Nähe schafft und manchmal Heilung. Wie Cecilia es beschreibt: „Es ist ein Ort, an dem man sich zugehörig fühlen kann, auch wenn man nur für kurze Zeit hier ist.“
Zwischen Proben und Wirklichkeit
Trotzdem ist es nicht leicht, alles am Laufen zu halten. Die Finanzierung bleibt eine Herausforderung. Cristobal sagt: „Wenn wir mehr Mittel hätten, könnten wir Mentoren bezahlen. Ein fester Probenraum ist auch wichtig. Und wir wünschen uns, Gäste von auswärts einzuladen, Menschen mit besonderen Musiktraditionen.“
Sie würden auch gerne ein Archiv aufbauen. „Wir haben mindestens zwei Konzerte aufgenommen. Aber um das öffentlich zu machen, brauchen wir einen Tontechniker, um es gut aufzuarbeiten.“
Trotz allem ist die Stimmung bei den Proben nicht von Mangel geprägt, sondern von Freude. Es wirkt improvisiert, lebendig, manchmal tief berührend. Einen festen Dirigenten gibt es nicht. Die Leitung wechselt von Lied zu Lied. Alle lehren, alle lernen.

Erinnerung, Bewegung und Lieder, die reisen
Dieses Wechselspiel von Erinnerung und Musik steht im Zentrum von TüFolk. Es geht nicht nur um Auftritte. Es geht darum, etwas Gelebtes zu teilen. Volkslieder sind selten nur Melodien, sie tragen Geschichten und Identität. Und wenn sie in einem Kreis von Menschen gesungen werden, die sich gerade erst kennenlernen, dann verändert sich etwas.
Am 28. März, bei einem Auftritt in einem lokalen Kulturzentrum, stellte Cecilia ein Lied vor, ohne den Namen zu sagen. Warum? „Was ich an Volksliedern liebe: Sie verändern sich. Es gibt keine starre Eigentümerschaft. Die gleiche Melodie kann, je nach Kontext, etwas Neues bedeuten.“ Das Lied hieß: „Bella Ciao“. Sie erzählte, wie das Lied sich vom Wiegenlied zum antifaschistischen Protestlied wandelte. So ist es auch bei TüFolk: Lieder reisen durch die Zeit und erklingen neu an einem neuen Ort.
Wer mitmachen möchte, braucht nur eins zu tun: „Einfach vorbeikommen und sich vorstellen“, sagt Maia. Die Gruppe probt weiter jeden Freitag im Fichtehaus, Herrenbergerstraße 40 in Tübingen, und bereitet gerade ein Sommerkonzert am 11. Juli auf dem Tübinger Stadtfest vor.
Vielleicht erklingt dort das georgische Lied, das beginnt mit: „Patara bichi damekraga …“ Ein kleiner Junge hat sich verirrt. Doch hier bei TüFolk ruft jemand seinen Namen.
TüFolk im Internet und Kontakt:
TüFolk – Klangfolk e.V. Tübingen