19. Dezember 2025

Von den Anfängen bis zur zweiten Heimat

10 Jahre tuenews INTERNATIONAL

Mit der Ankunft vieler Geflüchteter im Landkreis Tübingen Mitte September 2015 kam alles ins Rollen. Schon am 1. Dezember erschien die Nullnummer von Tünews international – so die damalige Schreibweise. Darin tauchte im Grußwort von Landrat Joachim Walter ein Wort auf: relevant. Was sind wichtige Informationen für Geflüchtete? Diese Frage bestimmte die Inhalte aller 240 Wandzeitungen, Magazine und auch der Sonderausgaben zum Coronavirus. Mit der Pandemie änderten sich im Frühjahr 2020 die Arbeitsweise der Redaktion und die Verbreitung ihrer Produkte – siehe dazu „Corona bringt den ,Digital Turn‘“ (tun25121702).
Zurück zu den Anfängen mit einigen Schlaglichtern: Das interkulturelle Team konnte im Spätherbst 2015 nicht ahnen, was sich aus dem Medien-Projekt entwickeln würde. Angestoßen hatte es Wolfgang Sannwald, im Hauptberuf Kreisarchivar und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des Landratsamts (LRA), unterstützt von LRA-Pressesprecherin Martina Guizetti. Gemeinsam mit ihnen gingen acht Frauen und Männer mit Feuereifer an die Arbeit. Ihre Texte erschienen auch für Aktive in den Helferkreisen zunächst auf Englisch, Arabisch, in einer deutschen Kurzfassung und bald auch auf Dari/Farsi. Die ideelle und finanzielle Unterstützung des Landkreises machte es möglich. Auch auf die Volkshochschule als Kooperationspartner konnte die Redaktion zählen.

Hausmeister halfen bei allen Problemen

Die Frage, was wichtig ist, beantwortete ein Mitarbeiter aus Nigeria eindeutig. In einem längeren Text in der Nullnummer vom Dezember 2015 erklärte er, welche Rolle die Hausmeister in den Unterkünften neben ihrem eigentlichen Job spielen. Diese Männer und Frauen, viele selbst mit Migrationshintergrund, seien oft die erste Person, denen Geflüchtete begegneten. Diese „Caretaker“ halfen auch im Alltag und bei aller Art von Problemen – nicht nur in Tübingen, wo Ende 2015 rund 600 Geflüchtete Schutz fanden, sondern auch in Rottenburg (380), Mössingen (200), Kusterdingen (106), sowie Ammerbuch, Bodelshausen und Starzach mit je 50 Geflüchteten. „Caretaker“ vom Landratsamt für das Medienprojekt war lange Andrea Schmitt. Sie managte die Redaktion anfangs allein, dann eine Weile gemeinsam mit Martin Klaus. Er kam im März 2018 als Koordinator und Organisator zum Team.

Ein kleines Honorar für die Mitarbeit

tuenews INTERNATIONAL, so die aktuelle Schreibweise, verbreitete die News in unregelmäßig erscheinenden Druckwerken. Ein tuenews-Mitarbeiter brachte die Printprodukte zuverlässig in die Unterkünfte für Geflüchtete im ganzen Landkreis. Doch schon eine Woche nach dem Start erschienen sie auch online auf der Homepage, die im Mai 2019 neu gestaltet wurde, und in sozialen Medien. Die meisten Schutzsuchenden hatten schon auf der Flucht ihre Handys als Informationsquell genutzt. Ein weiterer Verbreitungsweg waren Radio-Sendungen auf der „Wüsten Welle“. Service-Meldungen und Tipps spielten eine große Rolle – zum Beispiel über Orte mit freiem Zugang zum Internet. tuenews hatte keinen großen Etat. Aber Geflüchtete konnten je 1,05 Euro für bis zu 20 Stunden im Monat für ihre gemeinnützige Arbeit bekommen.

Vor-Ort-Treffen als Quelle für Themen

Die tuenews-Redaktion wollte sofort Geflüchtete einbeziehen. Deshalb bot der Herausgeber schon in der sechsten Nummer Besuche des Teams in den Unterkünften an. Dieses Format sollte sich ab 2017 zu der Reihe „tuenews vor Ort“ weiterentwickeln – ein Forum für vielfältige Themen und Anregungen Geflüchteter und Ehrenamtlicher im Kreis Tübingen. Dieses Angebot starb mit dem Ausbruch von Corona.

Ein tuenews-Workshop unter Leitung von Dr. Wolfgang Sannwald in der Frühzeit von tuenews INTERNATIONAL. Foto: tuenews INTERNATIONAL.

Die Sprache als Schlüssel

Ein Thema brachten Redaktionsmitglieder bei einer der wöchentlichen Konferenzen selbst ein: Wie wichtig es ist, die deutsche Sprache zu lernen. Zunächst unter dem Service-Aspekt, wo es Sprachkurse gibt. In späteren Ausgaben ganz persönlich. Ihre Botschaft: Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Die Themen Ankommen, Wohnen und Arbeit, samt der Anerkennung beruflicher Abschlüsse, sorgten ebenfalls für viele Beiträge. Ab 2020 gab es zudem immer mehr aufklärende Artikel über Desinformation im Internet.

Kultur und Denken kennenlernen

Es brauchte kein Jahr nach dem Start, bis in einem Magazin große Themen auftauchten: Heimat, ein Wort, für das es in vielen Sprachen nichts Entsprechendes gibt, Heimweh und Integration. Damals wusste niemand, wie sehr das Thema Heimat auch 2025 noch emotional besetzt ist. Für das Herbstheft des Magazins „Schwäbische Heimat“ schrieben aktuelle tuenews-MitarbeiterInnen sowie erfahrene JournalistInnen-Coaches Beiträge. Schon 2016 sagte Wesam in einem Interview: Syrien werde immer seine Heimat bleiben, aber es fühle sich an, als könnte Deutschland seine zweite Heimat werden. Unter Integration verstand Wesam, die Kultur und die Traditionen Deutschlands kennenzulernen sowie die Art, wie die Menschen denken und wie sie ihren Alltag leben. Die Geflüchteten aus Syrien, dem Iran, Irak und Afghanistan im aktuellen Team wissen das längst. Viele von ihnen sind inzwischen Deutsche. Sie haben heute zwei Heimaten. Dazu gehört für sie auch tuenews.

Der Geschmack der Heimat

Heimat bedeutet für die Redaktion auch, Gemeinschaft mit anderen zu teilen. Besonders schmackhaft war das im September 2019 bei einem Koch-Event im Landestheater Tübingen. Der Duft von orientalischem Essen lockte 50 Gäste an. Fatima Salehi, Oula Mahfouz und Feras Trayfi bereiteten aus Fisch, Hähnchen, Linsen, Bulgur, Reis, Auberginen, Salat, Fladenbrot und vielen Gewürzen heimische Gerichte zu – extra „nur ein bisschen scharf“, so Fatima, geeignet für hiesige Gaumen. Nach dem Essen, von dem nicht mal ein Reiskorn übrigblieb, kamen Geflüchtete und Gäste miteinander ins Gespräch. Spaß miteinander zu haben, gilt der Redaktion ebenso viel wie konzentriertes Arbeiten. Legendär ist ein interner Falafel-Wettbewerb 2018. Egal ob aus Syrien oder Afghanistan: Alle kleinen gerollten Bällchen waren so köstlich, dass das Team auf eine Bewertung verzichtete.

Beim tuenews-Kochevent im LTT 2019. Foto: tuenews INTERNATIONAL / Sameer Ibrahim.

„Ein wahrer Schatz“

Beim Blättern in alten Ausgaben tauchen auf Fotos immer wieder neue Gesichter im Team auf. Nicht nur die Geflüchteten, die ihren Bundesfreiwilligendienst bei tuenews absolvierten, oder MinijobberInnen gingen ihren Weg, begannen eine Berufsausbildung oder ein Studium. Wer wagt, bei einem Zeitungsprojekt mitzuwirken, wusste schon in der Heimat um den Wert von Bildung. Etliche syrische Frauen arbeiteten als Lehrerinnen. Im Team fanden und finden sich vielfältige Berufsfelder: Archäologie; Luft- und Raumfahrt-Technik, Zahntechnik und Zahnmedizin. Ein Mitarbeiter ist ausgebildeter Goldschmied, Fotograf und Bergretter. Andere studieren inzwischen Gesellschaftswissenschaften oder Medizin. Bis zur Edition 150 im August 2019 hatte die Redaktion fast 2000 Meldungen und Texte produziert. „Das ist ein wahrer Schatz“, fasste Herausgeber Sannwald zusammen – und versprach, dass er ständig weiter vergrößert und über verschiedene Kanäle online verbreitet werden solle.

Soziale Medien in Palmyra vor 2000 Jahren

Von den Kenntnissen und Qualifikationen der MitarbeiterInnen konnten LeserInnen der Publikationen und die Öffentlichkeit mehrfach profitieren. Bereits 2017 berichtete der Syrer Abdul Baset Kanawi im Landratsamt über die 2015 vom „Islamischen Staat“ zerstörte antike Stadt Palmyra. Diese Stadt, genauer deren Büsten, waren vier Jahre später Thema eines Artikels unter der Frage „Social Media vor über 2000 Jahren?“ des syrischen Archäologen Youssef Kanjou. Der ehemalige Leiter des Museums in Aleppo forscht an der Universität Tübingen. Er schrieb und schreibt immer wieder Beiträge über alle möglichen kulturhistorischen Themen.

Fotografien und Musik für alle

Im September 2018 präsentierte Ahmad Salah Fotos von Firus Abdullah zum Alltag im syrischen Krieg. Im März 2019 folgte die Ausstellung „Vor der Zensur gerettet“ mit Fotos von sozialer Not in Teheran. Fotograf Mostafa Elyasin hatte das Elend von 2001 bis 2006 mit seiner Kamera dokumentiert. Das missfiel den iranischen Zensoren. Die vor ihnen versteckten Negative gelangten auf geheimen Wegen nach Deutschland. Musik aus den Herkunftsländern spielte nicht nur in Texten eine Rolle. Auf fünf Events brachten es von 2017 bis 2019 die „4all“-Festivals unter dem Motto „tü sounds international“ mit Konzerten im Tübinger Epplehaus und speziellen Magazinen. Claron Mazzarello hatte die Reihe ins Leben gerufen und organisiert. Mit dem Lockdown im März 2020 war auch sie Geschichte.

Sonderhefte würdigten Spezielles

Das Thema Müll und wie damit umzugehen ist, sorgte anfangs für zahlreiche Meldungen. Was passiert mit dem Abfall, nachdem er abgeholt wurde? Diese Frage stellten sich tuenews-MitarbeiterInnen und recherchierten im April 2018 im Dußlinger Entsorgungszentrum. Ihre Ergebnisse flossen, reich bebildert, in die Edition 91 ein. Dieses Heft brachte selbst Alteingesessenen neue Erkenntnisse. Das tuenews-Team hat vielfältige Kontakte zu Geflüchteten, die unerlässlich für die journalistische Arbeit sind. In Gesprächen hörten Redaktionsmitglieder, wie sehr Geflüchtete das Tübinger Asylzentrum und seine Arbeit schätzen. Grund genug, ihm 2018 mit der Edition 117 eine Sondernummer unter dem Motto „30 Jahre Partei ergreifen für Flüchtlinge“ zu widmen. 2019 war ein Wahljahr: kommunal und europaweit. Unter dem Motto „Wählen hat wert“ rief das Landratsamt dazu auf, an die Urnen zu gehen. Das sollte Wahlberechtigte ermutigen, ihr Recht wahrzunehmen. tuenews veröffentlichte am 25. Mai ein Sondermagazin speziell für seine Zielgruppe. Geflüchtete aus Afghanistan, Nigeria, dem Irak und Iran, aus Somalia und Syrien berichteten über Wahlen in ihren Herkunftsländern, die oft diktatorisch regiert wurden und überwiegend 2025 noch werden. Ein Sondermagazin zum Thema Einbürgerung dokumentierte 2021, wie gut einige Schutzsuchende in Deutschland schon integriert waren.

Corona sorgte für Veränderungen

tuenews entwickelte sich mit den Jahren kontinuierlich weiter – nicht nur optisch mit neuem Layout oder neu gestalteten Internetauftritten. Auch die langjährigen MitarbeiterInnen professionalisierten sich immer mehr. Die gewohnten wöchentlichen Redaktionstreffen vor Ort im Landratsamt waren anregend und brachten beim Brainstorming immer wieder neue Themen hervor. Auf einen Schlag änderte sich fast alles. Schon einen Tag vor dem ersten Lockdown im Kreis Tübingen am 17. März 2020 erschien die erste Sonderausgabe zum Corona-Virus mit allen Regeln zur Kontaktbeschränkung.

So aktuell wie möglich

Mit der Pandemie waren alle bisherigen Redaktionstreffen und die gewohnte Spontaneität passé. Die Konferenzen liefen zunächst schriftlich über WhatsApp ab, später per Videomeeting. Das erforderte große Disziplin beim Kommunizieren. Redaktionsassistentin Kerstin Markl und eine ehrenamtliche Journalistin entwickelten sportlichen Ehrgeiz darin, selbst am späten Abend noch aktuell die neuesten Vorschriften zu veröffentlichen. Der Edition 184 sollten zwei Sonderhefte zum Thema, Video-Beiträge und über drei Dutzend Sonderausgaben zum Corona-Virus folgten. Die tuenews-Redaktion musste sich auch technologisch immer weiter professionalisieren. Doch das ist eine andere Geschichte.

Von Ute Kaiser

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