Von Brigitte Gisel
Auch die Geschichten von Migranten sind reif fürs Museum: Die Historikerin Marina Chernykh möchte mehr über das Leben jener Tübinger erfahren, die aus aller Welt kamen und in Tübingen heimisch wurden. Um deren Geschichte im Tübinger Stadtmuseum zu dokumentieren, sucht sie Fotos, Urkunden, Briefe, Arbeitskleidung und andere Alltagsgegenstände aus der Zeit des Ankommens.
Geschichte – das sind nicht nur die Gemälde, Bücher oder Sammlungen, die Könige, Kaiser oder große Staatsmänner und -frauen hinterlassen haben. Ebenso sind die Dinge des Alltags Bestandteil des kulturellen Erbes. Auch all das, was daran erinnert, dass schon seit langer Zeit, Menschen aus fremden Ländern nach Deutschland kommen – und ihre Geschichten und Geschichte mitbringen. Die Historikerin Marina Chernykh arbeitet beim Tübinger Stadtmuseum und will die Geschichte der Migranten festzuhalten: von den „Gastarbeitern“ der 60-er Jahre über die Geflüchteten aus der DDR bis zu den modernen Fluchtbewegungen infolge der Kriege in Afghanistan, Syrien oder der Ukraine. „Deine Geschichte fehlt“ lautet der Titel ihres Projekts, das einmal in eine Ausstellung münden soll.
Griechische Buchstaben
Denn bisher sind Geschichten mit Migrationsbezug stark in der Minderheit. „Von 45 000 Objekten in der Sammlung beschäftigen sich ganze 19 mit Gastarbeitern“, sagt Chernykh. Und auch das sind eher offizielle Dokumente – Unterlagen der Betriebssportgruppen des Textilunternehmens Egeria zum Beispiel. „Aber wir wollen die Perspektive umdrehen“, sagt die Historikerin. Biografien und Erlebnisse sowie Erinnerungsgegenstände der Migranten sollen künftig eine größere Rolle spielen. „Vielen ist gar nicht klar, dass sie Teil der Stadtgeschichte sind“, sagt Chernykh.
So fand beispielsweise eine elektrische Kugelkopfschreibmaschine den Weg ins Museum. Sie gehörte einst dem griechischen Übersetzer Sotiros Pantelidis. Die Schreibmaschine verfügte über drei austauschbare Kugelköpfe, sodass Pantelidis damit sowohl auf Deutsch als auch auf Griechisch schreiben konnte. Ein Stück Geschichte ist auch der kleine Schwarzweiß-Fernseher, mit dem sich die junge Italienerin Antonie Pricci Anfang der 70er-Jahre nicht nur die Zeit vertrieb: Der kleine schwarze Kasten wurde zu ihrem Deutsch- und Schwäbischlehrer.
Wimpel vom Sportverein
Auf der Plattform Museum digital (www. museum-digital-de) ist das Tübinger Stadtmuseum mit 29 Stücken zur Migrationsgeschichte vertreten: Neben der Schreibmaschine sind das auch Wimpel von Sportvereinen oder Buchstaben für die Auslage einer der ersten Tübinger Eisdielen. Erst kürzlich hat Chernykh wieder dazu aufgerufen, sich mit Erinnerungen und Fundstücken beim Museum zu melden. Nach dem letzten Aufruf kamen insgesamt vier Personen, teils brachten sie Tüten mit Material ins Museum. Chenykh hat festgestellt, das sich jetzt die Kinder der einstigen „Gastarbeiter“ – heute oft selbst schon im Rentenalter – plötzlich für ihre Familiengeschichte interessieren. Die Historikerin will aber nicht nur nicht warten, bis die Menschen ins Museum kommen. „Ich gehe gerne zu Menschen nach Hause und ich spreche Russisch“, sagt sie. Denn auch sie selbst hat eine Migrationsgeschichte: Sie kam mit ihren Eltern, die als Gastwissenschaftlern nach Dresden gingen, im Alter von zehn Jahren aus Russland in die DDR. „Ich kann mich noch gut an die Hefte erinnern, mit denen wir Deutsch gelernt haben.“
Kontakt zum Museum
Wer Bilder oder Alltagsgegenstände hat, die mit der eigenen Migrationsgeschichte zu tun haben, kann sich bei Marina Chernykh melden:
Stadtmuseum@tuebingen.de
07071/204-1793
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