von Wolfgang Sannwald
Sie haben gar nicht geschlafen. Oder immer nur kurze Zeit, das Handy neben dem Kopfkissen. Der Umsturz in Syrien und die letzten Stunden des Assad-Regimes hat unsere syrischen Kolleginnen und Kollegen auf dem tuenews Workshop in Heilbronn um den Schlaf gebracht. Wie geht es den Familienmitgliedern in Damaskus, Aleppo oder in den Orten in Küstennähe? Sind sie sicher?
Dieses Wochenende gehört Syrien, vor allem die Nacht von Samstag, 7. Dezember auf Sonntag, 8. Dezember 2024. Eines unserer Themen auf der Agenda waren die Entwicklungen in dem Land. Sie haben uns überrollt. Wir erleben Zeitgeschichte gemeinsam, die letzten Stunden von Baschar al Assads Regime. Wir erleben es in der Wahrnehmung einiger Menschen in Syrien, die darüber ihren Freunden in unserer Redaktion über Soziale Medien schreiben und am Telefon erzählen: Wie Verbände der mächtigen Aufstandsbewegung HTS von Idlib kommend in Homs einziehen. Wie die Übergabe in den von Alawiten bewohnten Gebieten in Küstennähe friedlich verlaufen. Wie Syrer aus dem Süden des Landes, unter anderem aus Daraa, als erste nach Damaskus vordringen. Wir sehen Videos über Präsidialgardisten, die auf der Straße ihre Uniformen ausziehen, in den Graben werfen und in Zivilkleidung auseinandergehen. Wir sehen, wie Aufständische im Staatsgefängnis Hunderte von Frauen befreien. Und es schwirren Fragen: Wo ist Assad, wieso verschwindet sein Flugzeug vom Radarschirm?
Am Tag zuvor hatten uns KollegInnen Einsicht in Perspektiven der Menschen aus unterschiedlichen Städten Syriens, aus dem Irak und aus dem Iran gegeben. Wer waren diese Milizen und wessen Geld machte sie stark? Eindeutig hatte der Iran die Hisbollah bezahlt und nach Syrien entsandt. Assads Regime baute auf deren Zwang und Gewalt, der Zorn vieler Menschen in Syrien richtet sich gegen die Hisbollah. Der Angriff Israels gegen Mitglieder und Stellungen dieser Miliz schwächte sie so sehr, dass ihre Kämpfer Syrien verlassen hatten. Rußland stand hinter dem Regime von Assad, seine Militärmacht sei aber im Angriffskrieg gegen die Ukraine gebunden. So blieben die von der Türkei finanzierten Milizen angriffsfähig, kurdische Kämpfer mit amerikanischer Unterstützung, einige kleinere Gruppen und – so bewerten die KollegInnen – vor allem die Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS). Deren Finanzierung bleibt zunächst ein Rätsel. Der Chef der HTS, Al-Dscholani, soll einst einen Zweig des Terrornetzwerks Al-Kaida geleitet haben. 2016 soll er mit Al-Kaida gebrochen haben. tuenews-KollegInnen zeigen Fotos eines Wandels: wie Al-Dscholani den Turban der Dschihadisten ablegte, jetzt Militäruniform trägt, seinen Bart und sein Image glättete, jetzt den Namen Ahmed al-Scharaa führe. „Ist ihm zu trauen?“ In die Freude mischt sich bei manchen – je nach Standpunkt – auch Angst: Bringt der HTS die Freiheit oder gibt es womöglich neue Unterdrückung?
Der hoffnungsvolle Blick der Menschen in Syrien richtet sich auf den Alltag: In Idlib hatte die HTS eine funktionierende Zivilverwaltung aufgebaut und ein Bischof wurde Chef einer Zivilverwaltung. In Aleppo, wo zu Assads Zeiten Strom und Internet stundenweise abgestellt blieben, versorgt die neue Zivilverwaltung die Menschen rund um die Uhr. Die Müllabfuhr arbeitet wieder. Während wir Fotos leergeräumter Supermarktregale aus Damaskus zu sehen bekommen, seien die Menschen in Aleppo gut versorgt. Man werde sehen, ob es den Menschen wirtschaftlich bessergehen werde und ob sie größere Freiheit bekommen werden.
Die Frage, ob ihnen der Sturz Assads eine Rückkehr nach Syrien nahelegt, beantworten viele eher zurückhaltend und sehr unterschiedlich. Die einen schließen das wegen fehlender Sicherheit aus. Andere haben wirtschaftliche Gründe: Viele Menschen in Syrien können nur mit dem Geld leben, das Geflüchtete aus der ganzen Welt ihnen überweisen. Und dann die Kinder, die seit 2013, 2014, 2015 in Deutschland leben, hier erwachsen wurden und Deutsche geworden sind. Sprechen sie ausreichend Arabisch? Würden sie sich im Herkunftsland zurechtfinden? Andererseits fühlen sich nicht wenige in Deutschland ausgegrenzt, vor allem seit den Morden der Terrorgruppe Hamas gegen israelische Menschen und den anschließenden Krieg Israels in Gaza. Mitglieder der tuenews-Redaktion kehrten Ihrerseits die Perspektive um: Wie hoch wären die Verluste für Deutschland, wenn viele der hoch gebildeten und loyalen Menschen aus Syrien in ihre alte Heimat zurückkehren und unseren Staat verlassen?
Zunächst aber überwiegt das Gefühl von Befreiung und Freude. Auf der Rückfahrt am Sonntag steigen einige in Stuttgart aus, wo eine Solidaritätsdemonstration zum syrischen Freudenfest umgewidmet wurde. Dieses Wochenende gehört Syrien.
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