Von Michael Seifert
Kamila Alali hat in den ersten Jahren von tuenews INTERNATIONAL mitgearbeitet und mit einem afghanischen Kollegen gemeinsam die Veranstaltungen von „tuenews vor Ort im Steinlachtal“ durchgeführt. Inzwischen arbeitet die Deutsch-Syrerin als Schulbetreuerin. Gemeinsam mit ihrem Mann, ihrer 13-jährigen Tochter und ihrem 15-jährigen Sohn ist sie 2025 zweimal nach Syrien gereist. Gegenüber tuenews INTERNATIONAL berichtet sie nun von ihren Erfahrungen.

Die zerstörte Heimatstadt
Im April besuchte sie gemeinsam mit Familienmitgliedern, die in die Türkei geflüchtet waren, ihre alte Heimatstadt Deir-Ezzor am Euphrat im Südosten des Landes. „Ich konnte nicht glauben, dass Syrien wirklich frei ist, und wollte sehen, ob ich wirklich ohne Angst in meiner Heimat sein könnte“, erzählt sie. Ihre Stadt ist die durch den Krieg am schwersten zerstörte in ganz Syrien, es gab dort Kämpfe zwischen Oppositionstruppen und dem Regime, russische Bombenangriffe, zeitweise war sie vom IS besetzt. „Diese Zerstörungen hatte ich nicht erwartet. Aber die Menschen waren sehr froh und wollen alles wieder aufbauen, aber das braucht viel Zeit.“ Das Haus der Familie ihres Mannes stand noch, aber ohne Fenster und Türen, alles war geplündert. Vom Haus ihrer Familie stand nichts mehr, sie hatten es aber schon vor der Flucht verkauft. Sie sah viele völlig verarmte Leute, „die ganz wenig Geld verdienen, obwohl sie über zwölf Stunden arbeiten.“
Es sei ein riesiger Unterschied zwischen der Stadt im Osten und der Hauptstadt Damaskus, wohin sie dann weiterreisten: „Dort ist alles erhalten geblieben, denn da war das Regime, und das Leben dort ist ganz normal. Aber schon in Dörfern rund um Damaskus stehen oft keine Mauern von den Häusern mehr.“

Damaskus 24 Stunden geöffnet
Im August machte Kamila mit ihrer Familie dann Urlaub in Damaskus. Davon schwärmt sie: „Die Lebensmittelhändler hatten 24 Stunden geöffnet. Wir waren noch um 2 Uhr morgens auf der Straße. Und durchstreiften die Altstadt mit ihren Eiscafés und den berühmten Bars (aber ohne Alkohol!). Ich mag das, wenn viele Leute draußen sind. Die Nacht ist in Damaskus wie der Tag.“ Ihre Kinder waren auch begeistert: „Gemüse und Obst schmecken ganz anders in Syrien und so lecker.“ Die Lebensmittelpreise haben sich inzwischen normalisiert. Unangenehm war im Grunde nur, dass es nur alle fünf Stunden für eine Stunde Strom gab: „Wirklich eine Katastrophe.“
Eine entscheidende Veränderung gab es zur Zeit vor der Flucht: „Wir haben keine Angst mehr vor der Polizei, sie sind jetzt ganz anders, höflich, freundlich, voller Respekt. Man kann sie alles fragen.“ Das gilt sowohl in Damaskus als auch für die Grenzpolizisten an der Grenze zu Jordanien, über das sie eingereist sind, aber auch für die innersyrischen Kontrollen: „Früher musste man immer etwas bezahlen und durfte sich nicht beschweren, sonst konnte man gleich ins Gefängnis kommen. Jetzt sind sie sehr nett, selbst wenn man etwas falsch ausfüllt.“ Und wie Kamila zusammenfasst: „Die Angst, dass man aus dem Haus geht und nicht wiederkommt und für die Familie verschwunden ist, gibt es nicht mehr.“

Dank Polizei nichts mehr „unter dem Tisch“
Die Polizei wirkt offenbar auch entscheidend für gesellschaftlichen Wandel mit. Wie Kamila berichtet, ist noch etwas ganz neu: „Man zahlt und bekommt nichts mehr ‚unter dem Tisch‘“. Damit ist die in Syrien verbreitete Korruption gemeint: „Man musste für alles, was man haben wollte, z.B. ein Kind in der Schule anmelden oder ein Dokument erhalten, etwas Geld ‚unter dem Tisch‘ geben. Das geht jetzt nicht mehr. Die Leute der neuen Regierung kontrollieren das, gehen beispielsweise zum Schulamt und bieten an, für eine Dienstleistung etwas zu geben. Und wenn das jemand akzeptiert, kommt er gleich ins Gefängnis – vielleicht für 40 Tage. Auf diese Weise werden die Leute erzogen.“
Damit verbunden ist der Aufbau einer geordneten Verwaltung: „Heute braucht man für alles eine Genehmigung: Man kann nicht einfach ein Haus bauen oder ein Geschäft eröffnen, man muss zur Behörde gehen und eine schriftliche Genehmigung beantragen.“
Nach einer groben Einschätzung der neuen Lage gefragt, schätzt Kamila, dass 80 bis 85 Prozent der Bevölkerung der neuen Regierung folgen. „Aber es gibt immer noch ein paar Leute, die sagen: ‚Der alte Präsident war besser.‘ Die meisten Menschen wollen aber ein vereinigtes Syrien und nicht ein geteiltes Land mit verschiedenen Regierungen.“ Das gelte für alle Religionsgruppen, denn das Zusammenleben von Sunniten, Schiiten und Christen sei gerade in den größeren Städten sehr gut. Große Sorgen machten sich die Menschen über Israels Angriffe auf Syrien, es gebe eine große Angst vor weiteren gewaltsamen Übergriffen Israels.

Rückkehr? Jetzt noch nicht
Und wie sieht Kamila eine mögliche Rückkehr nach Syrien? Die Position ihrer Kinder sei klar: „Sie wollen gerne nach Syrien, nach Damaskus reisen, aber nur zu Besuch. Sie genießen dort die Freiheit der Ferien. Dort leben wollen sie aber nicht.“
Sie selbst würde gerne zurückkehren, „wenn Syrien wirklich sicher und das Stromproblem gelöst ist. Aber wegen meinen Kindern geht das jetzt nicht – erst wenn sie selbständig in Deutschland leben können.“ Wenn, dann würde sie nach Deir-Ezzor gehen: „Denn das ist meine Stadt. Aber meine Stadt ist kaputt. Wir müssen alle zusammenarbeiten, um sie wieder aufzubauen.“ Sehr schön für Kamila war es vor kurzem zu beobachten, dass es eine große Online-Spendenaktion auf der ganzen Welt für Deir-Ezzor gab. „Es waren schon 31 Millionen Dollar erreicht, das Ziel sind 80 Millionen. Es gibt viele reiche Leute in den Emiraten, in Amerika, in Großbritannien, die aus Deir-Ezzor stammen und viel gespendet haben. Wir waren sehr glücklich wegen dieser Nachricht.“
Kamilas Fazit lautet: „Ich bin richtig zufrieden, dass Syrien jetzt frei ist. Und die Hoffnung ist, dass wir zusammen Syrien wieder aufbauen können. Der neue Präsident will auch, dass die Leute aus Europa und Amerika zurückkommen und ihre Erfahrungen von dort einbringen. Aber wir müssen abwarten, wie sich alles unter der neuen Regierung entwickelt.“
Mehr über Kamila Alali unter: tun23031506
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