von Nasir Serrikashkawij
Der Übersetzer und Journalist Nasir Serrikashkawij ist seit kurzem Teil des Redaktionsteams von tuenews INTERNATIONAL. In diesem Text schildert er seine Eindrücke vom Sprachkurs in Deutschland: Die Menschen, ihre Geschichten, und sein Ankommen in einer neuen Sprache.
„Eines Tages, Nasir, wirst du in Deutschland sein.“ Das waren die echten Worte meines Schuldirektors, als ich 13 Jahre alt war. Achtzehn Jahre später sitze ich in einem Klassenzimmer in Tübingen, einer Stadt im Süden Deutschlands, und lerne Deutsch – zusammen mit zwölf anderen Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt.
Vielleicht hat mein Schulleiter damals etwas gesehen, das ich nicht sehen konnte. Mit dreißig kam ich nach Deutschland – mit einem Visum in der Hand und einem Herzen, das schwerer war als mein Koffer. Dieser Koffer trug das Gewicht von zwei Revolutionen: Eine während der dunklen Jahre von Terror und Gewalt im Nahen Osten und die zweite nach einem Treffen mit einer deutschen Freundin in einem Café in Erbil, im irakischen Kurdistan. Damals berichtete ich über den Aufstand „Frau, Leben, Freiheit“ in Iran im September 2022.
Ich komme aus dem Nordwesten Irans. Das aktuelle Kapitel meines Lebens ist eine Suche nach Sinn und nach mir selbst. Aber in den letzten fünf Monaten wurde mein Leben vor allem durch eine Gemeinschaft geprägt: eine Sprachschule, in der Ausländer – Geflüchtete und Migranten – Deutsch lernen.

Guten Morgen auf viele Arten
Jeden Morgen stehe ich früh auf, ziehe meinen Rucksack an und laufe 30 Minuten zu Fuß zur Schule. Wenn ich das Klassenzimmer betrete, sind oft drei meiner ukrainischen Mitschüler schon da. Verschiedene Stimmen sagen „Guten Morgen“ – auf ihre eigene Art. Wir sind achtzehn Personen, jede mit einer eigenen Geschichte. Einige haben ein neues Zuhause gefunden, nachdem ihre Länder angegriffen wurden. Andere, wie ich, sind vor politischer Verfolgung geflohen. Wieder andere sind wegen einer Arbeit oder ihrer Familie hier.
Fünf Tage in der Woche, vier Stunden am Tag – das zeigt Wirkung. Ich beobachte oft, wie sich unser Sprechen verbessert. Und ich kann ehrlich sagen: Wir haben Glück mit unseren Lehrerinnen und Lehrern.
Unsere Hauptlehrerin, Fernanda Möbius, bringt Licht in den Raum – im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Sie hat viel kulturelle Erfahrung und spricht mit jeder Person auf ihre eigene Weise. Sie sagte mir einmal: „Meine jahrelange Auslandserfahrung ermöglicht mir einen leichteren Zugang zu den Menschen – ohne Vorurteile. Während meines zweijährigen Aufenthalts im Iran konnte ich beispielsweise feststellen, dass Frauen oft selbstbewusster sind als ich glaubte. Trotz politischer und teilweise gesellschaftlicher Unterdrückung nehmen viele iranische Frauen ihr Schicksal mit Würde an und versinken nicht in Selbstmitleid. Das hat mir dort imponiert.“
Fernanda Möbius‘ Geschichten über Iran oder über verschiedene Lernstile sind mehr als Anekdoten – sie verändern, wie wir lernen. Und wie wir gesehen werden. Für viele von uns ist es schon eine Art Heilung, wenn wir nicht nur als Lernende, sondern als ganze Menschen wahrgenommen werden. Möbius sagt oft, dass Intuition beim Sprachenlernen genauso wichtig ist wie Grammatik: „Wenn Sie das Gefühl noch nicht haben – kein Stress, das kommt mit der Zeit.“

Sprache als Schlüssel zur Zugehörigkeit
Der Rhythmus im Klassenzimmer spiegelt unser echtes Leben. Manche arbeiten Vollzeit, andere kümmern sich um Familie. Viele fangen nach dem Exil gerade erst neu an.
Irene Grimaldi, 33 Jahre alt, kommt aus Italien. Sie arbeitet in einer Bäckerei, lernt Deutsch und sagt: „Arbeiten und Deutsch lernen gleichzeitig ist nicht einfach, aber ich funktioniere gut unter Druck. Für mich bedeutet Arbeit nicht nur Geld, sondern auch: Ich kann zeigen, wer ich bin. Ich will fließend sprechen, eine Karriere aufbauen und mein Leben verbessern.“ Sie fügt hinzu: „Ein guter Sprachlerner taucht ganz in die Sprache ein – nicht nur in die Grammatik, sondern auch in die Kultur, den Alltag, wie die Leute reden. Bei der Arbeit muss ich mich ausdrücken, und das bringt mich weiter.“
Für andere ist die Herausforderung nicht nur die Zeit, sondern das Denken selbst. Hana, 28, ist aus der Ukraine geflohen. Sie sagt: „Manche Menschen haben Probleme mit Disziplin, andere finden zwischen Familie und Alltag keine Zeit. Und für einige war Sprache schon immer schwierig.“
Mohammad, 37 Jahre alt, kommt aus Afghanistan und lebt jetzt mit seiner Familie hier. Für ihn bedeutet Deutschlernen nicht nur Überleben – sondern auch Verbindung: „In Afghanistan grüßt man sich einfach auf der Straße und spricht. In Deutschland reden Menschen meist nur in Gruppen oder Vereinen miteinander. Wenn du dazugehören willst, musst du Deutsch sprechen. Es gibt keinen anderen Weg.“
Der Kopf voll, der Mund still
Mehmet, 45, Geschichtslehrer und Vater aus der Türkei, sieht Sprache als Zugang zur Kultur: „Geschichte ist für mich immer eine Frage der Sprache. Sprache zeigt, wie Menschen denken. Deutsch zu lernen, bedeutet für mich, eine neue Perspektive zu verstehen.“ Aber Sprache ist auch ein Marathon: „Man versteht irgendwann fast alles – aber man kann noch nicht schnell antworten. Die Gedanken sind schneller als die Worte. Das ist das Schwerste.“
Mark Twain schrieb einmal, Deutsch zu lernen sei wie ein 4D-Puzzle ohne Bild auf der Schachtel. Er hatte recht. Am Anfang waren meine Pausen im Unterricht ein Sprachenchaos. Mein Kopf war voll, mein Mund still. Deutsch brauchte viel Platz in meinem Denken.
Deutschland bringt uns nicht nur die Sprache bei. Es gibt uns auch Zeit, zu lernen, wie man hier lebt. Die Kurse für Geflüchtete und Migranten sind kostenlos, der Staat hilft mit Geld für Miete und Alltag. Sozialarbeiter geben Tipps für die Integration. Und: Im Klassenzimmer zählt unsere Stimme – auch wenn unser Deutsch noch nicht perfekt ist.
Sogar Möbius‘ eigene Beschreibung vom Unterrichten ist ehrlich und schön: „Es fühlte sich an, als wollte ich zu viele köstliche Pralinen in eine zu enge Schachtel hineinquetschen. Am Ende verfehlte ich mit einem zu großen Enthusiasmus das Ziel.“ Vielleicht machen wir das auch – wir versuchen, unser Leben, unsere Erinnerungen und unsere Hoffnungen in neue Sätze zu bringen. Manchmal reicht die Grammatik nicht. Aber wir versuchen es immer wieder.

Die Sprache neuer Ichs
In meinem Leben bedeutete Freiheit einmal, mich von einem islamistischen Regime zu lösen – einem System, das Familien in Iran mit falschen Ideen vergiftet und das Leid durch Armut verstärkt hat. Heute ist Freiheit etwas Einfaches: Mit einem Bahnmitarbeiter reden. Oder einem Fremden den Weg zeigen. Vertrauen war früher zu gefährlich. Jetzt ist es: die Lehrerin bitten, meine Fehler zu korrigieren – ohne Scham. Freundschaft und Liebe? Ich lerne, diese Begriffe neu zu definieren. Wie ein deutsches Wort – es hängt vom Kontext ab. Und genau das ist Sprache: Wir lernen. Wir vergessen. Wir versuchen es erneut.
Wenn ich mich in der neuen Gesellschaft bewege, merke ich: Mein neues Leben in Deutschland ist wie ein Mikroskop. Ich sehe klarer, wer ich war. Und wer ich werde. Der Weg wird lang sein. Aber bis dahin – auf all den vielen Treppen hier – werden diese deutschen Wörter ihren Weg nach draußen finden.
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