8. Februar 2025

„Jetzt kommen unsere Befreier“ – das Kriegsende im Landkreis Tübingen 1945.

Auszug aus dem Buch Wolfgang Sannwald (Hg.): Einmarsch, Umsturz, Befreiung? Das Kriegsende im Landkreis Tübingen. Frühjahr 1945, Tübingen 1995, S. 7-23. In dem Buch sind die Anmerkungen belegt.

von Wolfgang Sannwald

Erstaunen löste bei den Franzosen, die mit Stahlhelmen und in ihren Jeeps Mitte April 1945 in den Landkreis Tübingen fuhren, das friedliche Bild aus, welches sich ihnen bot: junge Frauen und Mütter, häufig in schillernden Kleidern, sauber und frisch, die auf den Feldern hart arbeiteten. Auch der Gouverneur nahm bei seiner Ankunft kurz nach dem Einmarsch wahr, daß er einige Vorurteile revidieren mußte. Der Kreis, den er in Zukunft verwalten sollte, liege in „Schwaben“, so seine Erkenntnis, und seine Einwohner hätten nicht den militärischen Charakter des typischen Deutschen. Der Schwabe sei hörig gegenüber allen Behörden, „leider: welche auch immer es sein mögen!“, er sei „Arbeiter“, „friedfertig“ und „leicht von Begriff“. War der Kreisgouverneur ursprünglich „bewegt vom Willen, die Entbehrungen und die Gewalttaten, die in Frankreich und in den Deportationslagern begangen worden waren, heimzuzahlen“, so entwaffnete ihn bei seiner Ankunft die „gehorsame, friedliche schwäbische Bevölkerung, die völlig glücklich darüber war, die letzten alptraumhaften Tage des Krieges zu Ende gehen zu sehen“.<1> 

Erleichterung dürfte tatsächlich das vorherrschende Gefühl gewesen sein, das sich in den Dörfern des Landkreises nach den Ereignissen zwischen dem 18. und 26. April 1945 einstellte. Die Zeit von Bombenangriffen, Tieffliegerbedrohung und Artilleriegefechten war vorüber. Die Pfäffinger zum Beispiel atmeten auf, „daß die Fliegergefahr beseitigt ist und man nachts nicht mehr in die Keller muß“. In Kusterdingen war die Bevölkerung „dankbar, daß sich der Übergang in ihrer Gemeinde ohne weitere Zerstörungen vollzogen hatte“. Dort, wo es zu Kämpfen oder heftigen Tieffliegerangriffen gekommen war wie in den Starzacher Teilorten, drückten die Menschen ihre Freude darüber aus, „daß man davongekommen ist“. Wegen dieses weitverbreiteten Gefühls der Erleichterung schloß der Kreisgouverneur zwar nicht, „daß der Okkupant geliebt ist, aber er ist gerne toleriert“. Darüberhinaus erkannte er zwei Parteien unter den Kreisbewohnern. Die eine begrüßte – unter den genannten Abstrichen – die Alliierten als Befreier. Die andere Partei hatte nicht mehr die Willenskraft, um den geringsten Widerstand zu versuchen. Beide Haltungen finden ihren sprachlichen Niederschlag sowohl in zeitgenössischen Berichten als auch in Zeitzeugenaussagen noch 50 Jahre nach dem Kriegsende. Die neutraleren Begriffe „Besetzung“ oder „Einmarsch“ sind unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse eher selten benutzt worden.<2> 

„Jetzt kommen unsere Befreier!“ rief ein Sulzauer, der zur Begrüßung der Franzosen eilig seinen Sonntagshut aufgezogen hatte, als am Tag des Einmarsches ein französischer Jeep den Neckar durchquerte. Daß sich hier ein einfacher Bürger für die Besetzer in Schale warf, ist eher die Ausnahme. Mit dem Ausdruck „Befreiung“ wird eine eindeutige Aussage über die Verbrechen und den Zwang des nationalsozialistischen Regimes getroffen. Von einer Befreiung sprachen sonst in erster Linie die Verfolgten, Unterdrückten und Eingesperrten, KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, vielleicht einige Gewerkschafter und Männer der Kirche.<3>

So meinte Kusterdingens evangelischer Pfarrer Martin, „viele“ seiner Gemeindeglieder hätten die „französischen Kolonialtruppen als Befreier vom nationalsozialistischen Gewaltregiment und vom Krieg“ wahrgenommen. Sein Mähringer Amtskollege verkraftete sogar den Diebstahl seiner Kirchenkasse, die zwar sorgfältig vergraben gewesen, aber dennoch gefunden und geraubt worden war: „Alle erlittenen Verluste erschienen klein im Vergleich zum Wiedergewinn persönlicher und kirchlicher Freiheit und der Erlösung vom Druck eines satanischen Spitzelregiments“. Wachendorfs katholischer Pfarrer äußerte sich froh über die wiedergewonnene Freiheit „zu lehren, zu helfen, zu dienen“. Nicht umsonst und wohldurchdacht gewährte die französische Militärregierung den Religionen sofort viele Vorteile, wodurch die Pfarrer und Pastoren in der damaligen Zeit eine entscheidende Bedeutung „für die geistige und politische Richtung ihrer Schäfchen“ (Brochu) gewannen.<4>

Auch ehemalige Gewerkschaftsmitglieder und Kommunisten, zum Beispiel in Mössingen, begrüßten die Befreier. Altkommunist Hermann Ayen ließ voller Vertrauen auf die internationale Solidarität seine zehn Hühner weiterhin im Hof frei laufen, während ängstliche Nachbarn die ihrigen versteckten. Er erlebte die erste Enttäuschung, als französische Soldaten sein gesamtes Federvieh verzehrten. Es gab freilich noch weitaus größere Enttäuschungen zu verkraften. So notierte ein Kirchentellinsfurter Gewerkschafter angesichts eines zerstörten Hauses, wie ihn ein „tiefes Wehgefühl“ angesichts des Schicksals einer Familie beschlich: „die Wohnung, das Haus abgebrannt, an zwei Töchtern sittliche Verbrechen verübt. Nicht klage ich den Feind an, das sind die Folgen der Besatzungen, sondern das deutsche Regime, das solch ein Elend heraufbeschworen hat.“<5>

Trotz solcher Stimmen dürfte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung das Kriegsende zunächst einmal als Niederlage erlebt haben. Für sie waren die Soldaten der französischen Armee „echte Feinde“. Tatsächlich ist in vielen staatlichen Akten auch nach Kriegsende vom „feindlichen“ Einmarsch die Rede. Im vorliegenden Buch wird dieser Ausdruck in Anführungszeichen gesetzt, da er die Sicht des damals kämpfenden NS-Staates wiedergibt. Dieses Feindbild hatte der Staatsapparat auf vielfältige Art und Weise seinen Bürgern eingeflößt, besonders auch Jugendlichen über Schule und Jugendorganisationen. Sie erlebten den Einmarsch als Schande. Ein Zeitzeuge, der die Ereignisse als Hitlerjunge erlebte, wünschte sich angesichts der „Feindpanzer“ sehnlichst ein paar Panzerfäuste herbei. „Für uns war das alles andere als eine Befreiung. Wir haben die Franzosen als Feind und Sieger über unsere Wehrmacht betrachtet. Wir, gerade wir Jungen, waren schon arg geschlagen; für uns war es ein großer Schock.“ Vielleicht vergrößerte diese Empfindung noch der Umstand, daß es französische Kolonialtruppen waren, die einmarschierten. Deren dunkelhäutige Soldaten stellten das nationalsozialistische Irrbild des blauäugigen „Herrenmenschen“ völlig auf den Kopf. In einzelnen Orten hatte diese Spätwirkung der NS-Propaganda tragische Folgen, so nahm sich eine Lehrerin aus Angst vor „Versklavung“ das Leben, einer anderen Mutter mit Kindern mißlang ein Selbstmordversuch.<6>

Die Bezeichnung „Niederlage“ nahmen unmittelbar nach Kriegsende vor allem ehemalige Frontkämpfer in den Mund. So ein Soldat aus Ofterdingen, der 1945 weiter ausführte: „ein trauriger Tag, an dem wir die Freiheit und das Recht verloren und bedingungslos ausgeliefert wurden, um das zu verhüten Millionen deutscher Soldaten ihr Leben für uns geopfert haben“. Der Bürgermeister einer Kreisgemeinde, der während des Krieges als Offizier an der Front gekämpft hatte, empfand angesichts des „Zusammenbruchs“ „seelische Not“. Er wandte sich gegen jene, die beim Einzug der Besatzungstruppen meinten, für sie komme die Freiheit. Es wären diejenigen gewesen, die nicht oder nur ganz kurze Zeit Soldat waren. Ihnen gegenüber malte er die Entbehrungen der Soldaten: „Wir lagen draußen bei Regen und Schnee, bei Sonnenglut oder Kälte, dem Feinde gegenüber, oft tausende Kilometer von der Heimat entfernt. Wir kamen zurück als Verwundete oder Kranke und nun wollten jene Bequemliche sich als Richter aufspielen“.<7> 

Bei den daheimgebliebenen Frauen und Jugendlichen war die Rede eher vom „Besiegtsein“, „den Krieg verlieren“, vom „großen Klatsch“, vom „Zusammenbruch“ und vor allem vom „Umsturz“. Zwar hatten sich viele, die den NS-Staat einst enthusiastisch begrüßt hatten, schon von ihm verabschiedet, noch ehe das Dritte Reich aufgehört hatte, zu bestehen.<8>  Aber der Abschied von den eingeimpften Normen und Werten, vor allem aber von der staatlichen Souveränität, dauerte sehr viel länger. Selbst bei mangelnder Identifikation mit dem weiterkämpfenden Staat empfanden viele das Kriegsende zumindest als nationale Niederlage. Für sie waren das Ende des Nazi-Regimes und der Einmarsch nicht ein und dasselbe.

Im Landkreis Tübingen sind noch heute einige wenige Stimmen zu hören, die kaum etwas von ihren damaligen Empfindungen abgelegt haben. Das sei doch eine „Niederlage“ gewesen, sagen sie und der „Feind“ hat in ihren Gedanken diesen Ausdruck beibehalten. Indessen haben die meisten der befragten Zeitzeugen ihre anfänglichen Ressentiments nach und nach abgelegt. Aus dem zeitlichen Abstand von 50 Jahren und vor dem Hintergrund bestürzender Informationen über manche – vielleicht unbekannte – Seite des NS-Staates, ist vielen klar geworden, daß der Feind der eigenen Freiheit nicht 1944 in der Normandie gelandet ist, sondern an der Spitze des Deutschen Reiches stand.

Tränengas für den „Saufschnabel“

Wenn auch der Wehrmachtsbericht vom 19. oder 20. April 1945 im Rundfunk „schwere Kämpfe um Tübingen“ meldete, so erscheint der Kriegsverlauf im Gebiet des heutigen Landkreises militärisch gesehen lediglich als unbedeutende Episode in der Schlußphase des Zweiten Weltkrieges. Politisch jedoch hatte dieser Kriegsschauplatz für den Chef der provisorischen französischen Regierung, Charles de Gaulle, überragende Bedeutung. Seine 1. Armee unter dem Befehl von Jean de Lattre de Tassigny sollte Karlsruhe und Stuttgart besetzen, um Frankreich ein Mitspracherecht in allen deutschen Angelegenheiten zu sichern. Größere historische Bedeutung kam insofern auch weniger den Kämpfen zu, als vielmehr der Schnelligkeit, welche die französischen Einheiten entwickelten, um das von ihnen besetzte Gebiet möglichst auszudehnen. Die Zoneneinteilung und damit die südwestdeutschen Nachkriegsländer leiten sich unmittelbar aus diesem militärischen Wettrennen zwischen Franzosen und Amerikanern ab.<9>

Angesichts dieser verzweifelten Lage erscheint das Verhalten der meisten deutschen Generäle, die weiterkämpften, unverständlich. Glaubten sie noch an die von Hitlers Propagandamaschinerie versprochene „radikalwirkende, geheime, längst versprochene Wunderwaffe“ wie der Tübinger Kreisleiter Hans Rauschnabel? Wollten sie es den im Osten kämpfenden Einheiten ermöglichen, sich nach Westen zurückzuziehen? Sie erfüllten das, was sie für ihre Pflicht hielten, auch wenn viele ihrer Soldaten schon längst die Sinnlosigkeit eingesehen hatten und sich in immer größerer Zahl auf den Heimweg machten.

Ende März und Anfang April 1945 überquerten die Alliierten den Rhein, französische Einheiten unter anderem bei Speyer und nördlich von Germersheim. Mitte April durchbrachen Amerikaner und Franzosen von Norden her die letzte zusammenhängende deutsche Front an Neckar und Enz. Kampfgruppen des 2. französischen Armeekorps erreichten am 17. April Nagold. Der Stab des Korps erkannte Auflösungserscheinungen der Wehrmacht und plante deshalb für den 18. April, so schnell wie möglich vorzustoßen, um von der Desorganisation des Feindes zu profitieren. In schnellen, raumgreifenden Bewegungen schwenkten die Kampfgruppen von Nagold aus in drei Gruppen östlich und marschierten auf Herrenberg und Tübingen zu. Die gepanzerten Fahrzeuge der 5. „Divison Blindée“ fuhren voraus und öffneten damit den Einheiten der 2. marokkanischen Infanteriedivision oder der 3. algerischen Infanteriedivision den Weg. Gleichzeitig verhinderte die absolute alliierte Luftüberlegenheit deutsche Truppenbewegungen tagsüber fast völlig. Täglich sollen alleine über Süddeutschland fast 1000 Flugzeuge in der Luft gewesen sein, sie bestimmten seit dem Frühjahr das tägliche Leben. Bauern mußten sich beim Kartoffelstecken in Ackerfurchen retten, Straßen und Züge konnten zur tödlichen Falle werden.

Im Landkreis Tübingen befand sich die deutsche Wehrmacht bereits im Zustand der Auflösung, so daß sie keine Front mehr bilden konnte. Versuche hierzu gab es am südlichen Neckarufer und am Albrand, was für die Zivilbevölkerung jeweils katastrophale Folgen hatte. In den heutigen Ortsteilen von Starzach provozierten aufgestellte Geschütze Tieffliegerangriffe. Andere Truppenteile verteidigten befehlsgemäß und sinnlos Albaufstiege, so in Talheim, wo bei einem mehrstündigen Häuserkampf viele Gebäude abbrannten und es zu Ausschreitungen kam. Selbst wo französische Einheiten nur auf kurzzeitigen Widerstand stießen wie in Dußlingen oder Remmingsheim, setzten sie ihre Artillerie massiv ein. Tübingen entging dem Beschuß durch Geschütze und Tiefflieger nur knapp. Wie Recherchen im französischen Militärarchiv Vincennes ergaben, hatte die 5. Panzerdivision für den 18. April bereits Fliegerunterstützung angefordert, deren Einsatz Parlamentäre des Standortarztes Dobler gerade noch aufhalten konnten.

Noch im Laufe des 18. und 19. April besetzten französische Einheiten das Kreisgebiet nördlich des Neckars. Während die Flußübergänge in Rottenburg und anderen Ortschaften gesprengt worden waren, stand die Tübinger Eberhardsbrücke noch. Gleich am 19. April fuhren französische Panzer hinüber und schnell weiter auf die Härten und Richtung Reutlingen. Den Tübinger Neckarübergang sicherten Verbände, die am Tag darauf neckaraufwärts Bühl erreichten. Erst am 22. April drang ein Panzerverband durch das Steinlachtal nach Hechingen und Mössingen vor, wobei ihn deutsche Truppen am Albaufstieg in Talheim und, jenseits der Kreisgrenze, in Genkingen, in heftige Kämpfe verwickelten, die den weiteren Vorstoß nach Sigmaringen kurz verzögerten. Deutsche Gegenmaßnahmen gingen meist von regulären Einheiten aus, die ihren Rückzug sichern wollten. Dabei stießen sie nicht selten auf die „ablehnende, ja geradezu feindselige“ Haltung der Zivilbevölkerung. Ernsten Widerstand leisteten diese Wehrmachtseinheiten oder der Volkssturm indessen nicht mehr.<10>

Vor allem NSDAP-Kreisleiter Hans Rauschnabel wollte bis zum letzten durchhalten. Der oberste Vertreter der NSDAP im Landkreis Tübingen, am 22. Januar 1895 in Stuttgart geboren, hatte im Ersten Weltkrieg als Soldat gekämpft und stand ab 1919 als Lehrer im württembergischen Schuldienst. Mit der Aufnahmenummer 11104 zählte Rauschnabel zu den ganz frühen Mitgliedern der NSDAP, der er noch vor 1923 beigetreten war. Allerdings scheint er zwischendurch ausgetreten zu sein, denn der Wiedereintritt mit der Mitgliedsnummer 509512 erfolgte am 1. April 1931. Seit diesem Datum war er Ortsgruppenleiter, ein Jahr später bereits nebenamtlicher Kreisleiter in Schorndorf. Als hauptamtlicher Kreisleiter kam Rauschnabel 1937 in den um den Rottenburger Raum vergrößerten Landkreis Tübingen. Als „Oberbereichsleiter der NSDAP“ unterstand ihm zeitweise auch Reutlingen. Der Kreisleiter hatte sowohl einen Sitz im Kreisrat wie im Kreistag und führte die Parteiaufsicht über Landrat Geißler. Mit ihm mußte der Landrat als oberster Verwaltungsbeamter das Einvernehmen herstellen. Dem Kreisleiter unterstanden etwa 15 bis 20 Kreisamtsleiter und Kreisstellenleiter, sein Dienstsitz befand sich in der Wilhelmsstraße 24. Nachdem Rauschnabel bereits seit 1. September 1943 „informatorisch“ beim Reichspropagandaamt tätig war, berief  ihn NS-Propagandaminister Goebbels am 27. November 1944 zum kommissarischen Reichspropagandaamtsleiter für Württemberg, holte ihn im Januar 1945 gar zu einer Unterrichtung in sein Ministerium nach Berlin. Gleichzeitig erhielt Rauschnabel das Amt des Gaupropagandaleiters und gehörte damit zur engsten Führungsspitze der NSDAP in Württemberg. Rauschnabel machte sich als Anstifter des Tübinger Synagogenbrandes und als Scharfmacher bei unterschiedlichsten Gelegenheiten schuldig. Auch die menschenverachtende nationalsozialistische Rassepolitik setzte er aktiv um, beispielsweise als er im September 1941 gemeinsam mit der Geheimen Staatspolizei die Möglichkeit zur „Unterbringung aller Juden aus den Kreisen Tübingen und Reutlingen in der Gemeinde Hemmendorf“ untersuchte. Tübingens Chronist des Jahres 1945, Hermann Werner, beschrieb ihn als „eine kräftige und entschlossene Natur, wenn auch kein kaltherziger Fanatiker“. Seine Liebe zum Remstäler Viertele habe ihm den Beinamen „Saufschnabel“ eingetragen. Die vielbelachte Tränengas-Episode auf Schloß Hohenentringen (vergleiche den Ortsartikel Entringen) zeigt, daß er in der Bevölkerung nicht nur Freunde hatte. Auf wenig Verständnis stieß Carlo Schmid, als er sich nach dem Krieg für Rauschnabel einsetzte, weil dieser in einer Zeit gut zu ihm gewesen sei, „in der ein weniger Wohlmeinender mich hätte hinter Stacheldraht bringen können“.<11> 

Rauschnabel organisierte bei Kriegsende die Verteidigung. So erhielt Tübingens Standortältester Dr. Dobler noch am 18. April um 23 Uhr einen „barschen Anruf“ der Kreisleitung, der ihn in die Wilhelmsstraße zitierte. Rauschnabel schien bereit, einen Befehl zu befolgen, die Lazarettstadt Tübingen zu verteidigen. Erst nach langen Diskussionen gab er seine Verteidigungspläne auf und zog sich am 19. April im Morgengrauen auf einen Gefechtsstand im Waldhörnle südlich des Neckars zurück. Auch dort konnten sich die „Vaterlandsverteidiger“ nicht halten, weil französische Einheiten über die unbeschädigte Neckarbrücke weiter vordrangen. Er floh mit seinem Volkssturmstab über Stockach, Öschingen und Talheim nach Steinhilben auf der Alb, wo der Volkssturm entlassen wurde. Von dort aus schlug sich Rauschnabel, bei Nacht wandernd, in die amerikanische Zone durch. Den Herbst und Winter verbrachte er in den Ruinen von Heilbronn. Vom Frühjahr 1946 an arbeitete er unerkannt als Landarbeiter in Züttlingen an der Jagst. Am 11. März 1949 besuchte er als „Herr Renz aus Heilbronn“ seine Frau in Tübingen und stellte sich den französischen Behörden, die ihn der deutschen Rechtsprechung übergaben. Zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt, verbüßte er nach einem Spruckammerverfahren eineinhalb Jahre im Internierungslager. Der ehemalige Kreisleiter zog 1956 nach Beilstein, wo er als Oberlehrer an der dortigen Volksschule unterrichtete.<12>

Rauschnabel unterstanden bei Kriegsende auch die zur Heimatverteidigung auf Befehl Hitlers vom 25. September 1944 aufgestellten sieben Volkssturm-Bataillone in Tübingen (2), Dußlingen, Mössingen, Rottenburg, Kirchentellinsfurt und Entringen. Die etwa 5000 Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren verfügten lediglich über 300 Gewehre, 200 Panzerfäuste und zwei Maschinengewehre. Zum Glück für alle Beteiligten erwies sich dieses letzte Aufgebot als wirkungslos. Die vielerorts aus Baumstämmen vorbereiteten Panzersperren wurden entweder erst gar nicht geschlossen, nach dem Abzug deutscher Truppen wieder geöffnet oder ließen sich leicht umfahren, da sie meist unverteidigt blieben. Die Kampfeinsätze der Volkssturmmänner wirken eher wie Don Quichoterien, beispielsweise in Mössingen, wo man nach großen Abschiedsszenen die Gewehre lieber erst gar nicht mitnahm. Freilich konnten diese Aktionen noch Leben kosten. Hitlers „Nero“ – Befehl vom 19. März 1945, demzufolge alle Industrie-, Nachrichten-, Versorgungs- und Verkehrsanlagen, die sich der „Feind“ nutzbar machen könnte, zerstört werden sollten, beschränkten sich im Kreis in der Hauptsache auf gesprengte Brücken. Auch bei angeordneten Evakuierungsmärschen blieben die Parteiführer meist unter sich wie etwa der Dußlinger Ortsgruppenleiter, der am Abmarschpunkt auf dem Schulhof alleingelassen eine Ehrenrunde drehte.<13>

Obwohl die Bevölkerung größtenteils keine Verteidigung mehr wollte und das Kriegsende herbeisehnte, getraute man sich doch nicht überall, ein weißes Leintuch als Zeichen der Übergabe zu hissen. Zu groß war die Furcht vor Sanktionen durch deutsche Einheiten. Viele Gemeindediener mußten noch kurz vor dem Einmarsch letzte Befehle ausschellen: „Wer die Truppen am Kampfe hindert, wird erschossen, wer eine weiße Flagge zeigt, dessen Haus wird in die Luft gesprengt“.<14> Deutsche Artillerie schoß auf Gomaringen, weil die Bürger ein weißes Leintuch hißten. Einem Bierlinger, der die Friedensfahne zum Kirchturm hinausgehängt hatte, drohte die standrechtliche Erschießung. Der Bodelshäuser Ortsgruppenleiter mußte sich wegen mangelndem Wehrwillen vor einem kurzfristig einberufenen SS-Standgericht verantworten. In Entringen sorgte nur der kluge Trick eines Bürgers in Verbindung mit protestierenden Frauen dafür, daß das Tuch hängenblieb. Häufig waren es Frauen, die ihre Gemeinde kampflos übergaben, da viele Männer an der Front kämpften, gefallen waren oder bereits in Gefangenschaft lebten. Kein Einzelfall blieb das beherzte Vorgehen einer Jettenburgerin, die dem örtlichen Parteivertreter unter die Nase rieb: „Ja, die Franzosen kommen, und du brauchst gar nicht denken, daß ihr da noch viel machen könnt“.

Vertrauen getäuscht, Hühner im Kochtopf

Von Ort zu Ort, von Straße zu Straße oder von Haus zu Haus konnte der französische Einmarsch völlig unterschiedlich verlaufen. „In vielen (Häusern) wurde nur gefragt und von Einzeldurchsuchung der Räume abgesehen, in andern kam es dabei zu Ausschreitungen und Plünderungen“, so die Beobachtung des Nehrener Pfarrers. Freilich konnten auch diese Unterschiede konkrete Ursachen haben. Die Bereitschaft zu Ausschreitungen bei den einmarschierenden Truppen stieg beispielsweise, wenn es im Vorfeld zu Kämpfen kam oder wenn Kriegsgefangene schlecht behandelt worden waren. Andererseits galten einquartierte französische Offiziere als Garanten für den Schutz eines Hauses. Bestenfalls fuhren die Franzosen in den Ort hinein, „als ob nichts wäre“. Schon zwei Tage später „hat man gar nicht mehr gedacht, daß jetzt die Franzosen da sind, oder ob das Deutsche sind die da rumlaufen“.<15> 

Ein Ziel der Besatzer waren immer die Rathäuser, wohin der französische Befehlshaber den obersten Vertreter der Gemeinde und seinen Amtsboten bestellte, denen er ein Merkblatt in die Hand drückte. Sie mußten sofort die ersten Verordnungen ausschellen, unter anderem: Beschlagnahme von Waffen, optischen Geräten und Rundfunkapparaten, Dauer der Ausgangssperre und angedrohte Vergeltungsmaßnahmen. In vielen Orten erfolgte auch prompt eine Hausdurchsuchung nach versteckten Soldaten der Wehrmacht und verborgenen Waffen. Während die zuerst im Ort einmarschierte Truppe, sie gehörte in der Regel zur 5. Panzerdivision, meist weiterfuhr, bezogen nach einigen Stunden oder Tagen Soldaten einer zweiten Welle Quartier. Sie gehörten im Landkreis oft zur 2. marokkanischen Infanteriedivision. Viele Ausschreitungen ereigneten sich erst, als die zweite Welle in die Dörfer kam. Plünderungen und unrechtmäßige Requisitionen von Eiern, Hühnern, Schafen, Armbanduhren und anderen Wertgegenständen kamen dann häufig vor, Vergewaltigungen in vielen Gemeinden. Diese Ausschreitungen dauerten mitunter einige Tage, Ende April scheinen die meisten Offiziere ihre Einheiten wieder im Griff gehabt zu haben. Aber auch nach dieser Phase verlangten einzelne Soldaten immer wieder Nahrungsmittel, vor allem Eier und Kleinvieh. Ein Erlaß vom 18. Mai 1945 verbot solche „unrechtmäßigen Requisitionen“. In dieser Zeit etablierten sich die Besatzer, errichteten eine Kommandantur im Rathaus oder einer Villa, bezogen Massenquartiere in Schulen oder Turnhallen und brachten ihre Offiziere in Privatquartieren unter. Dauerhafte Besatzung zog freilich nicht in jede Gemeinde des Landkreises, so blieben beispielsweise kleine Siedlungen wie Stockach davon verschont.

Die Bürgermeister mußten alle zum Teil unpopulären Maßnahmen vor Ort umsetzen und vor der Militärregierung verantworten. Nicht selten mußten sie bei den kleinsten Ungeschicklichkeiten und Entgleisungen Schikanen erdulden. Mit Zustimmung der Militärregierung konnten die Städte und Gemeinden seit September 1945 einen Bürgerausschuß bilden. Die ersten Gemeinderatswahlen fanden am 15. September 1946 statt, gleichzeitig wurden die Bürgermeister neu gewählt.<16>

Kurz nachdem das 2. französische Armeekorps, dessen Einheiten später den Landkreis Tübingen überrollen sollten, den Rhein überschritten hatte, nahm sein Kommandeur General Montsabert in einem Tagesbefehl vom 3. April 1945 gegen Ausschreitungen seiner Soldaten Stellung. In mehreren Ortschaften hätten sie vergewaltigt, gestohlen und in einigen Fällen wehrlose Personen verstümmelt. Der General drohte in diesem Befehl jedem Schuldigen ein augenblickliches Militärgericht an, ihre Vorgesetzten mußten mit Disziplinarstrafen rechnen.<17> Trotz solcher eindeutiger Befehle vergingen sich französische Soldaten alleine im Landkreis Tübingen schätzungsweise an 1300 bis 2000 Frauen und Mädchen sexuell, das entspräche ungefähr vier bis sechs Prozent der 1946 hier lebenden weiblichen Bevölkerung. Diese Zahlen beruhen teils auf Mitteilungen von Bürgermeisterämtern, die bei ihren Ortsärzten Erkundigungen eingezogen hatten, teils auf Angaben in Pfarrberichten oder direkt von Ärzten. So listete alleine der Chef der Tübinger Frauenklinik, Professor August Mayer, zwischen April und August 1945 900 Frauen aus der Stadt und dem gesamten Kreisgebiet auf, die bei ihm behandelt worden waren.<18> Die Hälfte der Opfer seien Tübingerinnen gewesen. Freilich kamen nicht alle vergewaltigten Frauen zur „Sanierung“, wie Abtreibungen und Behandlungen gegen bakterielle Infektionen damals mitunter umschrieben wurden, in die Frauenklinik. Auch ortsansässige Ärzte, zum Beispiel in Mössingen, Gomaringen und Dußlingen oder die Kliniken in Bad Sebastiansweiler nahmen derartige Eingriffe vor. Auch eine nicht unerhebliche Dunkelziffer ist anzunehmen, da sich viele Frauen schämten, manche auch die Kinder austrugen. Insofern stellt die oben genannte Zahl eine sehr vorsichtige Schätzung dar. In dem bereits öfters erwähnten Bericht des französischen Kreisgouverneurs von 1949 ist von „certains actes de violence regretables“ (einigen bedauernswerten Gewalttaten) „exercés par des indigènes africaines“ (die afrikanische Eingeborene verübten) die Rede. Brochu führte aus, man dürfe diese Vergehen einiger Militärs nicht länger leugnen, „sie waren bei jenen Einheiten wenig zahlreich, die die Chefs gut in der Hand hatten“.<19>

In drei Vierteln der 59 in diesem Buch untersuchten Orte sind nach jeweils zeitnahen örtlichen Angaben Vergewaltigungen belegt, sieben Dörfer scheinen vor solchen Gewalttaten verschont geblieben zu sein. Bei den restlichen liegen keine Zahlen vor.<20> Freilich traf es die Frauen in den Gemeinden völlig unterschiedlich, was oft genug von Zufällen abhing. Zunächst einmal lassen sich einzelne Gebiete erkennen, in denen es gar nicht, andere, in denen es in sehr starkem Maße zu Vergewaltigungen kam. Grundsätzlich gilt, daß die Orte, in denen gekämpft wurde wie Unterjesingen, Dettenhausen oder einige Steinlachgemeinden, in besonderem Maße zu leiden hatten. Am Schlimmsten ging es im Steinlachtal zu, wo bei Talheim und anderen Albaufstiegen deutsche Truppen Widerstand leisteten. Über 600 Opfer von Vergewaltigungen lassen sich im Gebiet, das die heutige Stadt Mössingen mit Belsen und Talheim, Ofterdingen, Dußlingen und Gomaringen umfaßt, schätzen. In Talheim, wo es zu regelrechten Straßenkämpfen kam, sollen drei Viertel aller Frauen und Mädchen den Brutalitäten der Soldaten zum Opfer gefallen sein. Hingegen erscheint das Gebiet der heutigen Gemeinde Starzach samt den benachbarten Orten Hirrlingen und Bodelshausen in dieser Hinsicht fast unbehelligt davongekommen zu sein. Auf ihrem raschen Vormarsch hatte die französische Armee Starzach zunächst rechts liegen lassen und erst am 26. April besetzt.

Angesichts dieser Zahlen scheint der Befehl des französischen Korpskommandanten von Anfang April recht wirkungslos verpufft zu sein. Immerhin berichten manche Chronisten davon, wie einzelne Kommandanten ihren Truppen Einhalt zu gebieten versuchten. So Kommandant Castries, der nach einer Vergewaltigung in Belsen seine Soldaten antreten ließ, um das Opfer nach dem Täter suchen zu lassen – freilich ergebnislos. Immerhin befahl er daraufhin alle Frauen zu ihrem eigenen Schutz in die Schule, vor der er einen Doppelposten aufstellte. In Tübingen wurden angeblich zwei Marokkaner wegen derartiger Vergehen am Österberg erschossen.<21> Bedrückt kommentierte eine Tübingerin in einem Brief vom 23. April 1945 die Vergewaltigungen: „Das, was bei den Deutschen während ihrer Besetzung in Frankreich laufend passierte – wir beide wissen es ja zur Genüge -, ist hier ebenfalls die Regel. Aber schlimm ist halt, wenn man sich beschwert, ist stets die gleiche Antwort: ‚Was tat ihre SS da und da …‘ Oradour … ‚Ich habe mit eigenen Augen gesehen …‘ ‚Ihre KZs, die Erschießung Gefangener durch die deutsche Wehrmacht …‘ usw. usw.“<22>

Noch heute tut man sich in Frankreich – wie ja auch in Deutschland – schwer, solche Vergehen der eigenen Truppen einzugestehen. Der Eindruck des Öschinger Pfarrers vom „Einbruch des Tiers“, des Ofterdingers vom „Schrecken im Ort“, schlug im Landkreis Tübingen, wo der Krieg bis dahin fern war, auf die Besatzer zurück.

Die Vergewaltigungen sind eine Begleiterscheinung des von Deutschland entfesselten Krieges. Eine andere ist die Art und Weise, wie damit umgegangen wurde. So ist das Mössinger Beispiel wahrlich keine Ruhmestat, wo man die Eroberer zur Baracke ukrainischer Zwangsarbeiterinnen wies, um deutsche Frauen zu schonen. Auch Evakuierte gehören in auffällig großer Zahl zu den Opfern. Wie dieser Mechanismus des „Vorschickens“ von anderen funktionierte, ist im Ortsartikel von Talheim geschildert. Dort hat Katharina Franz auch den Ablauf ihrer eigenen Vergewaltigung in literarischer Form festgehalten. Hinterher mußten nur allzuhäufig die betroffenen Frauen gegen ihre eigenen Selbstvorwürfe und die der Gesellschaft kämpfen. Unter den aus dem Krieg heimkehrenden Männern sollen einige gewesen sein, die ihren Frauen Vorhaltungen machten, weil ihnen so etwas geschehen war. Katharina Franz beschreibt das Gefühl, „in einem zweifelhaften Lichte dazustehn, als trüge man doch eine Mitschuld, als sei es nicht nur ein Unglück, das einen getroffen hatte, sondern eine Schande, ja ein Versagen“. Deshalb, so Franz, konnten sich viele dieser „geplagten“ Frauen bis heute nicht offenbaren. Das Resümee eines ehemaligen Soldaten der Wehrmacht zum Thema Vergewaltigungen 50 Jahre danach: „Wenn man das so insgesamt sieht, sind wir ganz gut davongekommen. Ich war in Rußland, wo man Ortschaften eingenommen hat. Wie man die dem Erdboden gleich gemacht hat, können wir nur Gott Lob und Dank sagen, wie wir davongekommen sind“.<23>

Beim Einmarsch französischer Truppen in den Landkreis Tübingen stellten sich vielerorts Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter aus jenen Gebieten, welche die deutsche Wehrmacht zerstört oder erobert hatte, schützend vor ihre deutschen Arbeitgeberinnen und verhinderten so die gröbsten Ausschreitungen.

Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene mußten während des Krieges in fast jeder Gemeinde des Landkreises arbeiten, meist vier bis fünf Jahre lang. Mit den Kriegsgefangenen verband die Bevölkerung beim Einmarsch oftmals eine Art von Schicksals- wenn nicht gar Lebensgemeinschaft. Einige erlitten in diesen Stunden das gleiche Schicksal wie die deutsche Bevölkerung und kamen bei den Kämpfen um. Auch sie hatten Angst vor dem nahenden Einmarsch. Schon aus eigenem Interesse setzten sie sich deshalb für einen friedlichen Ablauf der Besetzung ein. Marcel Bourteel aus Altingen gehört zu den vielen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, die französischen Panzern entgegengingen und für eine friedliche Besetzung sorgten. Der Einsatz dieser Gefangenen ging aber oft über das Eigeninteresse hinaus, etwa in Dettenhausen, wo ehemalige Zwangsarbeiter die Beschießung eines Bunkers voller Zivilisten verhinderten. Ebenso in Bierlingen oder Hirrlingen, wo polnische Zwangsarbeiter Häuser, die ihnen gar nicht gehörten, mindestens so eifrig löschten, wie die Besitzer. Die Berichte über helfende Franzosen, Italiener, Russen und Polen sind zahlreich. Das Beispiel von einem Kriegsgefangenen in Hirrlingen, der seine erkrankte Dienstherrin aufopfernd pflegte, steht nicht alleine. Man habe sie ja auch trotz Verbot am Tisch essen lassen, sagen die einstigen Arbeitgeber. Tatsächlich gibt es eine Reihe zeitgenössischer Belege für das gute Einvernehmen, etwa aus Remmingsheim, wo sich ein deutscher Bauer selbst eine schwere Verwundung zuzog, als er seinen beim Artilleriebeschuß tödlich getroffenen Zwangsarbeiter in Sicherheit bringen wollte. Und die bis auf den heutigen Tag bestehenden Kontakte sind ein sicherer Hinweis auf den wahrhaften Hintergrund solcher – gepflegter und gerne erzählter – Geschichten. Manche Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene haben sich sogar im Landkreis niedergelassen. Aber es gibt auch Gegenbeispiele, wie sie etwa in den Ortsartikeln von Dußlingen oder Kusterdingen nachzulesen sind. In beiden Fällen griffen überörtliche Institutionen des NS-Staates ein und störten das Zusammenleben. Während in Dußlingen ein Bataillon der Organisation Todt Pläne zur Ermordung von über 300 Kriegsgefangenen entwarf, beging das oberste SS-Gericht in Kusterdingen einen Justizmord an dem ukrainischen Zwangsarbeiter Kalymon.

Nach Kriegsende erhielten die 6500 ehemaligen Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen Sonderrationen, sie wohnten im Landkreis in zwei Lagern, Tübingen und Obernau, ebenso außerhalb des Landkreises in Karlstal bei Haigerloch. Von diesen Lagern aus unternahmen einige von ihnen Streif- und Plünderungszüge in umliegende Orte. Zu ihren bevorzugten Zielen gehörte Kusterdingen, wo viele von ihnen bei der Urteilsvollstreckung an Kalymon hatten zusehen müssen. Die Spannungen zwischen ihnen und den Dorfbewohnern entluden sich in der „Polenschlacht“. Der französische Kreisgouverneur hatte insgesamt Mühe, die „Displaced persons“ im Zaum zu halten und bemühte sich darum, sie schnell abzuschieben.<24>

Der Landrat im Sattel und „der Herr Gouverneur“

Durch den Einmarsch der Alliierten hatten das Deutsche Reich und die Länder aufgehört zu existieren. Als größte politische Einheit war auch der Kreis Tübingen mehrere Monate lang auf sich selbst gestellt und eine kleine, selbständige Wirtschaftsrepublik, die auf eigene Rechnung und Gefahr wirtschaftete. Bis zur Etablierung des Staatssekretariats für das französisch besetzte Württemberg und Hohenzollern gab es keine höhere deutsche Verwaltungsinstanz, freilich aber eine französische. Die französische Militärregierung war oberster Souverän und regierte vor Inkrafttreten des Besatzungsstatuts ohne engere rechtliche Bindungen. Ende August bis Anfang September verlegte der Militärgouverneur für die französisch besetzte Zone seinen Sitz von Freudenstadt nach Tübingen.<25> In der Universitätsstadt residierte schon seit dem Einmarsch ein „délégué de cercle“ (im folgenden synonym verwendet mit Kreisgouverneur), dessen Zuständigkeit sich auf den Landkreis beschränkte, dort aber in der Anfangszeit gegenüber den deutschen Behörden fast unbeschränkt war.

Über das Tübinger Kreisgouvernement gibt vor allem der „Apercu historique sur le cercle de Tubingen“ des damaligen „délégué“ Brochu aus dem Jahr 1949 Auskunft.<26> In der ersten Periode des Tübinger „Gouvernement Militaire du Cercle“, die Brochu bis Juli 1945 ansetzte, funktionierte das übergeordnete französische Militärgouvernement noch nicht. Es existierte praktisch keine höhere administrative Gewalt über jener des Délégué des Kreises, der zunächst vom jeweiligen Chef des Cinquième Bureau der ersten französischen Armee an der Spitze einer Abteilung „I“ im Landkreis eingesetzt wurde. Die Initialen der Abteilungen korrespondierten mit deren unterschiedlicher Bedeutung. Zwar existierte eine übergeordnete Abteilung „E“ bis Mitte Juli 1945 in Stuttgart, dann bis zum September 1945 in Freudenstadt, aber sie machte sich durch keinerlei Verordnung bemerkbar. Im Prinzip hingen die Militärgouvernements in den Kreisen auch von den Kommandanten der größeren Einheiten, diese Unterstellung bezeichneten die Tübinger Gouverneure aber als „völlig illusorisch“.

Kreisgouverneur in Tübingen war von 27. April bis Juli 1945 „Lieutenant de Vaisseau“ Etienne Metzger, von Juli bis September 1945 „Médecin Colonel“ Huchon. Etienne Metzger kam direkt aus Frankreich nach Tübingen. Da der Marineleutnant und spätere Korvettenkapitän von seinem militärischen Rang her eher niedrig eingestuft war, hatte er zunächst Probleme, sich gegenüber örtlichen Militärbefehlshabern durchzusetzen. In einer Anzahl von Orten ignorierten die Ortskommandanten das Militärgouvernement bewußt. Sie mischten sich mißbräuchlich in deutsche Angelegenheiten ein. Der Délégué des Kreises war in den meisten Fällen machtlos. Es gab wohl eine örtliche Militärkommandantur, eine frisch eingetroffene französische Gendarmeriebrigade, aber insgesamt ging der Délégué unter. Metzger hatte das Glück, in Tübingen General Mozat vorzufinden, dessen Truppen – er befehligte das Combat Command 5 der 5. Panzerdivision – ohne Kämpfe in die Stadt einmarschiert waren und der ihm in den ersten Tagen der Besetzung half. Einige Militäreinheiten, die im Kreisgebiet stationiert waren, unterstanden allerdings nicht General Mozat, sondern der 3. algerischen Infanteriedivision in Stuttgart.

Als Grundlage für seine Arbeit stand dem Kreisgouverneur ein offenbar nicht sehr geschätztes „Handbook“ zur Verfügung. Die SHAEF, „Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force“, der oberste Generalstab der alliierten Streitkräfte, hatte es herausgegeben und ins Französische übersetzen lassen. Demnach sollte der Kreisgouverneur die deutsche Verwaltung wieder aufbauen und dabei kompromittierte Funktionäre eliminieren. Das „Handbook“ regelte auch die Aufgabenverteilung innerhalb des Kreisgouvernements: Verwaltungsangelegenheiten, Wirtschaftsangelegenheiten, Sicherheit, Displaced Persons, Vermögenskontrolle. Der Délégué nahm zusätzlich in Paris an einem dreiwöchigen Kurs für Verwaltungsfunktionäre der Besatzungszone teil. Dort führten ihn bedeutende Professoren und anerkannte Germanisten in die deutsche Geologie, die deutsche Geschichte und Spekulationen über die deutsche Mentalität ein. Indessen fand er sich in Tübingen, so die nüchterne Einschätzung in dem genannten Bericht, „sehr viel erdhafteren Problemen“ und unvorhergesehenen Situationen gegenüber, bei deren Lösung es vor allem auf den rechten Sinn ankam.

Während der ersten Periode wechselte das Kreisgouvernement viermal die Örtlichkeiten. Zunächst befand es sich im „Lamm“. Im Juli richtete sich Oberst Huchon im Rhenanenhaus auf dem Österberg ein, das später der für ganz Württemberg und Hohenzollern zuständige Gouverneur Widmer als Wohnsitz übernahm. Diese Periode, die ein späterer Kreisgouverneur ironischerweise als „heroisch“ bezeichnete, dauerte bis Juli 1945. Als Oberstleutnant Huchon das Amt übernahm, hatte sich die Autorität des Délégué ein wenig gefestigt.<27>

Wichtigster deutscher Ansprechpartner des ersten französischen Kreisgouverneurs war Landrat Friedrich Geißler, der das Amt schon während des Dritten Reiches bekleidet hatte. Als die französischen Okkupationstruppen am 19. April die Universitätsstadt erreichten, setzten sie Geißler am nächsten Tag zunächst ab und ernannten an seiner Stelle den Stellvertreter Koch. Weil der aber nach Einschätzung des Landrats „ein völliger Versager“ war, durfte Geißler, den die Franzosen für keinen „wilden Nazi“ hielten, sein Amt ab 15. Mai wieder aufnehmen. Der damals 56jährige hatte von 1921 bis 1926 der konservativen Württembergischen Bürgerpartei/DNVP angehört, am 1. Mai 1933 trat er unter der Mitgliedsnummer 2872470 der NSDAP bei. Von 1929 bis 1934 war er Landrat in Bad Mergentheim gewesen, mußte das Amt aber auf Weisung des Innenministeriums nach heftigen Auseinandersetzungen mit der NSDAP aufgeben. Geißler übernahm am 23. April 1934 den Landkreis Tübingen, wo es ebenfalls zu starken Konflikten mit den Kreisleitern der NSDAP Helmut Baumert und Hans Rauschnabel kam. Laut Geißler gingen diese bei Kriegsende so weit, „daß der Kreisleiter nach einer mir von zuverlässiger Seite gemachten Mitteilung die Absicht geäußert haben soll, vor seinem durch den Feindeinmarsch gebotenen Abschied mich noch erschießen zu wollen“. Andererseits ließ der Landrat als Person durchaus die seit der Machtübergabe an Hitler opportune Gesinnung erkennen, beispielsweise bei seinem Abschied von Bad Mergentheim, wo er auf frühere Anfeindungen durch „Juden“ und „marxistische Arbeiter“ hinwies, „weil ich Nationalsozialist sei“.

Auch das Landratsamt als Behörde füllte seine tragende Rolle innerhalb des nationalsozialistischen Staates aus. Beispielsweise im Rahmen der Kommunalaufsicht, wenn es etwa galt, den Schwalldorfer Bürgermeister Jungel im Juli 1940 zu maßregeln, weil er um Spenden für die Instandsetzung des katholischen Gemeindehauses geworben hatte. Zudem war die Verwaltung des Landkreises in die Judenverfolgung und Judenvernichtung eingespannt, so finden sich in den Akten beispielsweise Aufstellungen über die im Landkreis Tübingen wohnhaften Juden, welche das Landratsamt am 9. Oktober 1941 auftragsgemäß an die Geheime Staatspolizei meldete.<28>

Immerhin gehörte Geißler offenbar zum Freundeskreis um Dr. Dobler, der sich für eine kampflose Übergabe der Stadt Tübingen einsetzen wollte. Ja, er hatte nach Ausführungen von Carlo Schmid geplant, gemeinsam mit Dobler den Franzosen entgegenzufahren. Geißler zählte auch zu den Tübinger Bürgern, die sich unter Führung Carlo Schmids als „Demokratische Vereinigung“ konstituierten. Offenbar kam auch Kreisgouverneur Metzger gut mit Geißler zurecht: „Er erwies sich als korrekt, gab keinem Vorwurf Raum und gab dem Délégué nützliche Hinweise“. Demgegenüber ließ ihn der neue Délégué Oberstleutnant Huchon am 16. Juli 1945 „comme fonctionnaire hitlérien“ aufgrund einer Denunziation verhaften und zunächst im Amtsgerichtsgefängnis einsperren. Dekan Dr. Stockmayer setzte sich in einem Gesuch des evangelischen Kirchengemeinderats an Oberstleutnant Huchon für die Freilassung des „gut kirchlich gesinnten und der Partei gegenüber aufrechten“ Mannes ein, erreichte jedoch nichts. Am Sonntag, den 22. Juli, erfolgte die Verlegung des Inhaftierten nach dem Motto „accompagné par SS“ durch die Stadt in den Fünfeckturm des Schlosses, wobei Offiziere den Landrat mit Reitpeitschen an den Kopf schlugen. Weil die Untersuchung der Vorwürfe, die ein Verwaltungsbeamter aus dem Kreis Nürtingen, mit dem Geißler wegen einer Stellenbesetzung eine Auseinandersetzung gehabt hatte, „sans aucun résultat“ im Sande verlief, kam der Landrat am 31. Juli wieder frei. Freilich durfte er sein Amt nicht mehr aufnehmen. Die alten „Landräte“ mußten seinerzeit alle „gemäß höherer Vorschriften ersetzt werden“. Die Franzosen verhafteten Geißler am 3. April 1946 erneut und internierten ihn bis 2. Oktober 1946 im Lager Balingen, von wo aus er dann wieder – ohne jede Einschränkung – entlassen wurde. Nach Aussage seines Nachfolgers ist es Geißler gelungen, „die Verwaltung des Kreises in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder in Gang“ zu bringen, da er „in energischer Weise die Zügel wieder in die Hand nahm“. Geißler konnte ab Dezember 1948 seine Karriere zunächst im Wirtschaftsministerium und dann ab 1949 als Landrat in Calw fortsetzen.<29>

Nachfolger Geißlers wurde am 16. Juli 1945 Viktor Renner, der schon seit 18. Juni das Amt des kommissarischen Oberbürgermeisters in Tübingen bekleidete und dies auch nach seiner Ernennung zum Landrat bis Ende des Jahres beibehielt. Der frühere Richter Renner war nicht Mitglied der NSDAP gewesen. Er war den Franzosen so wertvoll, daß sie ihn nicht von Tübingen wegließen, als er am 25. Oktober 1945 Präsident des Landgerichts Hechingen werden sollte. So blieb er bis zu seiner Berufung zum Staatssekretär durch Carlo Schmid im Dezember 1946 Landrat. Später brachte er es in der Landespolitik zum Innenminister, Justizminister und langjährigen Abgeordneten.<30>

Bei den Maßnahmen, welche die Landkreise ergreifen mußten, kam es in dieser Zeit weniger auf die Kenntnis von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften an. Die Landräte mußten „aus dem Sattel“ heraus regieren, wie das Carlo Schmid auf der Landrätetagung am 3. August 1946 in Biberach ausdrückte. Dabei unterstand der Landrat zunächst einmal dem Kreisgouverneur, ohne dessen Genehmigung in der Anfangszeit kein Deutscher das Kreisgebiet verlassen durfte, für jede Warenausfuhr war seine Zustimmung erforderlich. Von ihm erhielt er die Anordnungen und Befehle der Militärregierung. ihm mußte er regelmäßig, anfangs täglich, Bericht erstatten. Wenn die Militärregierung ihre Anordnungen getroffen oder ihr Einverständnis erklärt hatte, konnte der Landrat nach eigenem Ermessen schalten und walten. Allerdings mußte er sich ständig der Unterstützung der französischen Militärregierung in Tübingen sicher sein. Diese erwartete prompte Pflichterfüllung. So wandte sich der Gouverneur der Militärregierung Widmer am 21. Mai 1946 höchstpersönlich an das Staatssekretariat, als sich bei einer Kontrolle herausstellte, daß Plakate, die Landrat Renner am Nachmittag des 7. Mai zugestellt bekommen hatte, zwei Tage später noch in keinem Rathaus angeschlagen waren.

Neben seiner Funktion als Leiter der staatlichen und kommunalen Verwaltung war der Landrat in den ersten Monaten auch verantwortlich für die in seinem Kreis untergebrachten Landes- und Reichsbehörden, für die Eisenbahn, die Post, das Arbeitsamt und anderes mehr. Er war der oberste Beamte seines Bezirks, bei dem alle Fäden der öffentlichen Verwaltung zusammenliefen. Es fehlten schließlich die übergeordneten Verwaltungsstellen aber auch demokratisch gewählte Kontrollgremien. Dies änderte sich erst, als am 16. Oktober 1945 das Staatssekretariat für das französisch besetzte Gebiet seine Geschäfte in Tübingen aufnahm und als nach den Wahlen vom 13. Oktober 1946 die erste Kreisversammlung am 29. Oktober tagte.<31> 

Nach der Besetzung fand im Bereich der Kreisverwaltung umgehend eine Entnazifizierung statt. Drei von zehn überprüften leitenden Persönlichkeiten des Amtes waren keine Parteigenossen. Insgesamt wurden drei „durch den Nationalsozialismus politisch belastete Beamte“ aus der Kreispflege entfernt, darunter Kreispfleger Max Diebold. Dem ehemaligen Kreisorganisationsleiter der NSDAP hatte der Kreisleiter gegen den Widerstand des Landrats zu seinem Amt beim Landkreis verholfen. Diebold war mit der Mitgliedsnummer 2870170 am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten, hatte angeblich aber bereits seit 1928 für die Partei gearbeitet.

Eine Liste der Beschäftigten der Kreisverwaltung, wohl vom Juni 1945, nennt für den staatlichen Bereich 20 Beamte und 22 Sekretärinnen, für den kommunalen Bereich 16 Beamte und 17 Sekretärinnen, insgesamt also 75 Angestellte und Beamte. Die Kreisverbandsämter waren zunächst in der Rümelinstraße 19 und im Derendinger Haus untergebracht, einzelne Dienststellen mußten wiederholt umziehen. Auch die erste Kreisversammlung tagte im Derendinger Haus. Der Landkreis Tübingen umfaßte damals – vor der Kreisreform der 70er Jahre – noch nicht die später vom aufgelösten Kreis Horb hinzugekommenen Gemeinden, ebenso fehlte Gomaringen, wohingegen er im Osten bis Pliezhausen reichte. Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich mitgeteilte Zahlen immer auf diesen Altkreis Tübingen.

Aufbau der Kreisverwaltung nach der Besetzung 1945:

Kommissarischer Landrat Viktor Renner

Stellvertreter Dr. Ulrich Koebel

Untere Verwaltungsbehörde:

1.       Verwaltungsangelegenheiten, Ernennung von Bürgermeistern, Kommunalaufsicht, Konzessionswesen, geleitet von Gregor Lutz

2.       Fahrbereitschaft, Verkehrskontrolle, geleitet von Hugo Raiser

3.       Kreisernährungsamt, geleitet von Dr. Fritz Bauer

4.       Wirtschaftsamt, geleitet von Karl Häussler

Kommunale Selbstverwaltung:

5.       Allgemeine Verwaltung und Finanzen, geleitet vom stellvertretenden Kreispfleger Walter Barth

6.       Sozialamt und Jugendamt, geleitet von Fritz Jehle

7.       Verwaltungsaktuare

8.       Kreisbaumeister Christian Rentschler und Ludwig King

9.       Kreisobstbauinspektor Hermann Kost

Als die erste Keisversammlung am 29. Oktober 1946 im Derendinger Haus tagte, nannte Landrat Renner in seiner Begrüßungsansprache das Ziel der Militärregierung: „in unserem Land eine wahre Demokratie aufzurichten“. Die Kreisversammlung nannte er eine „gute Schule, in der die wahre Demokratie geübt werde“. Oberst Courtois, der damalige Kreisgouverneur, sagte der Kreisversammlung zu, daß sie ihre Arbeit „in größter Freiheit durchführen könne“.<32>

Bei ihrer Arbeit fanden sich der „Herr Gouverneur“ und das Landratsamt unmittelbar nach dem Einmarsch einem verwaltungsmäßigen Chaos gegenüber. Keine öffentliche Einrichtung funktionierte mehr, weder Verkehr noch Post, noch Telefon, noch Presse. Die Schulen waren geschlossen, ebenso die Tübinger Universität. Zuerst mußte sich der Kreisgouverneur auf die örtlichen Militärkommandanten stützen. Nach der „Säuberung“ und dem Wiederaufbau der deutschen Verwaltung war das Landratsamt für die meisten Maßnahmen zuständig. So, wie die Landkreisverwaltung während des Krieges zusätzlich zu den normalen Aufgaben für Musterungen, Evakuierungen und Fliegerschäden zuständig gewesen war, so mußte sie sich jetzt um die Kriegsfolgen kümmern. Dabei stand zunächst einmal die Beschaffung von Lebensmitteln an erster Stelle. Landrat Geißler brachte seine Hauptaufgabe am 14. Mai 1945 auf den Nenner: „Die letzte Kartoffel, das letzte Pfund Brotgetreide muß heraus, wenn wir nicht Hunger leiden wollen“. Zur Sicherung der Ernährung mußten außerdem Arbeitskräfte für die Landwirtschaft gesucht werden, da die ausländischen Arbeiter nicht mehr zur Verfügung standen. Auch der Wiederaufbau landwirtschaftlicher Gebäude hatte Vorrang. Indessen konnte sich im Landkreis Tübingen der Wiederaufbau auf die Wiederherstellung der Verkehrswege konzentrieren, da umfangreichere Zerstörungen wie in vielen Großstädten ausgeblieben waren.

Große Belastungen kamen indessen durch die Bevölkerungsbewegungen jener Monate und Jahre auf den Landkreis zu. Zunächst einmal mußten die Verschleppten heimgeführt werden, was bis 29. Oktober 1946 weitgehend gelang. Hingegen waren zu diesem Zeitpunkt von den 3534 Evakuierten erst 914 in ihre Heimat zurückgekehrt, 1240 durften dauernd bleiben. Gleichzeitig mußten aus den Ostgebieten 5000 Flüchtlinge aufgenommen werden. Für sie richtete der Landkreis in Bad Niedernau ein „Auffanglager“ ein. Sodann hatte das Landratsamt die Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften der Militärregierung umzusetzen. Dazu gehörte beispielsweise auch die Lenkung des Kraftfahrzeugverkehrs, für die der „Fahrdienst“ schon während des Krieges zuständig gewesen war.

Schließlich brachten die Besatzungstruppen erhebliche Lasten mit sich, unter anderem durch die Verpflegung, die für sie aufgebracht werden mußte. Zunächst einmal galt es dabei, irreguläre Requisitionen durch die Truppe abzustellen, „jedenfalls darf nichts ohne Requistionsschein abgegeben werden“. Weiterhin benötigten französische Truppen und Verwaltungsstellen Unterkünfte. Besonders unpopulär war eine Maßnahme, die Ende Juni 1945 auf Betreiben der französischen Ortskommandanten stattfand. Jede deutsche Familie mußte  eine komplette Jacke oder einen Überzieher, ein Paar Schuhe und Unterkleidung abliefern. Diese Kleidungsstücke schickte die Militärverwaltung nach Frankreich, damit sich ehemalige Deportierte einkleiden konnten. Der Tübinger Délégué hatte im Voraus gewarnt und behielt recht: „Es ist kaum wahrscheinlich, daß die Franzosen für ihre persönlichen Bedürfnisse Kleidungsstücke akzeptieren würden, die einen sehr ordinären Schnitt hatten und die aus einer Region stammten, die nicht gerade wegen ihrer Eleganz reputiert war“.<33>

Laut der Direktiven im „Handbook“ bestand eine der wichtigsten Aufgaben der französischen Militärverwaltung in der Entnazifizierung und politischen Säuberung von Behörden und Wirtschaft. Das allergrößte Problem bestand darin, geeigneten Ersatz für die entfernten Personen zu finden. Es galt, so der Kreisgouverneur 1949, schnell zu handeln und mit einem gewissen Mißtrauen, „weil fast alle Deutschen, die plötzlich jede Verbindung zum Dritten Reich leugneten, einen Geist des Widerstands gegen das Naziregime entdeckten“. Die strikte Anwendung des „Handbook“ hatte die Zahl der Internierten in den Gefängnissen von Tübingen und Rottenburg ansteigen lassen. Indessen konnte kein großer Nazi entdeckt werden, der vom Nürnberger Tribunal hätte abgeurteilt werden müssen.<34>

 In manchen Städten und größeren Gemeinden setzten die Franzosen die Bürgermeister schon gleich beim Einmarsch oder kurz danach ab. In kleineren Dörfern hingegen blieben die Bürgermeister, auch wenn sie der NSDAP angehört hatten, zunächst im Amt. In Einzelfällen wie in Stockach amtierten sie sogar bis zur Bürgermeisterwahl im September 1946 und wurden dann wiedergewählt. Eine geordnete Überprüfung fand bis zum 6. Juni 1945 statt, als Landrat Renner dem Kreisgouverneur Beurteilungen sämtlicher Bürgermeister in seinem Amtsbereich vorlegte. In einer Vorbemerkung wies er daraufhin, daß viele von ihnen schon vor der Machtübergabe amtiert hatten und von den Nationalsozialisten wegen ihrer fachlichen Qualifikation beibehalten worden wären. „Allerdings sind alle Bürgermeister, der eine rascher, der andere weniger rasch, dem Druck der Partei nachgebend, in die NSDAP eingetreten“. Verhaftet oder bereits abgesetzt hatten die Franzosen Ortsvorsteher in Dußlingen, Jettenburg, Remmingsheim, Seebronn und Wolfenhausen. Die Kirchentellinsfurter hatten ihr Gemeindeoberhaupt Falch selbst davongejagt, weil er sie beim Einmarsch im Stich ließ, obwohl ihm die folgenschwere Verteidigung des Ortes angelastet wurde. Einige Bürgermeister verloren ihr Amt ausdrücklich wegen ihrer NSDAP-Vergangenheit: der von Oberndorf, weil er gleichzeitig Ortsgruppenleiter der NSDAP und der SA gewesen war, jener von Pfäffingen, der als Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes galt. Rottenburgs Bürgermeister Willi Seeger wurde neben parteipolitischen Aktivitäten seine Beteiligung am Landfriedensbruch gegen Bischof Sproll vorgeworfen und dem Unterjesinger Ortsvorsteher lasteten die Untersuchungsorgane seine einst freundschaftlichen Beziehungen zum Kreisleiter Rauschnabel an. Neubesetzungen waren in acht Fällen durch den Tod der Amtsinhaber erforderlich. Hingegen hatten angeblich die Bürgermeister in Dettingen, Frommenhausen, Hagelloch, Immenhausen, Kusterdingen, Öschingen und Wendelsheim starke Probleme mit örtlichen NSDAP-Organisationen gehabt und wurden insofern positiv beurteilt. Landrat Renner berichtete bei der ersten Sitzung der Keisversammlung am 29. Oktober 1946, daß nach den Kommunalwahlen von 54 Bürgermeistern der NS-Zeit im damaligen Kreis Tübingen nur noch neun im Amt waren. Da von den neugewählten Bürgermeistern viele nicht die Fachausbildung der altgedienten hatten und deshalb die Rechnungs- und Steuergeschäfte nicht besorgen konnten, stellte der Kreisverband im Oktober 1946 drei weitere Verwaltungsaktuare zu ihrer Unterstützung  ein.<35>

Erinnerte Geschichte hoch im Kurs

Schon als der französische Délégué des Kreises Tübingen Brochu im Herbst 1949 den Auftrag erhielt, einen kurzen historischen Abriß über die Geschichte des Kreises während der Besatzungszeit zu schreiben, mußte er feststellen, daß es „wenige oder praktisch keine“ Archive<36> über die erste Zeit bis Juli 1945 gab. Bis heute ist die Aktenüberlieferung in den Archiven der öffentlichen Hand zu diesem Thema unzureichend.

Über den französischen Einmarsch finden sich in den Gemeindearchiven günstigenfalls Durchschläge von Formblättern, welche das Militärgouvernement oder das Landratsamt in den ersten Wochen reihenweise ausfüllen ließen. Sie geben Auskunft über Personen, die NSDAP-Mitglieder waren, über erwartete Ernteerträge, über Kriegsmaterial auf der Gemeindemarkung, über zerstörte Gebäude, über Kriegstote. Auch tauchen mitunter größere Akteneinheiten auf, in denen Requsitionsscheine gesammelt sind. Nur selten finden sich jedoch Berichte in den Gemeindearchiven über den Ablauf des Einmarsches.

Das Kreisarchiv Tübingen verfügt zum Kriegsende außer Sammlungsbeständen praktisch über keine Archivalien, da diese unter anderem 1973 an das Staatsarchiv Sigmaringen abgegeben wurden. Eine dieser Sammlungen besteht aus Berichten der Gemeinden, welche diese 1966 für die amtliche Kreisbeschreibung zum Kriegsende und zur Besatzungszeit angefertigt haben.<37>  Diese Berichte sind qualitativ völlig unterschiedlich. Während sie sich mancherorts auf zehn Antworten im Ja- und Nein-Stil beschränken, umfassen sie in wenigen Gemeinden Ausführungen von mehreren Seiten. Sie gehen meistens auf mündliche Ermittlungen der Bürgermeister zurück. Insofern stellen sie bereits eine frühe Anwendung des Verfahrens der „erinnerten Geschichte“ dar. Durch diese Berichte haben leider auch einige falsche Datierungen und Informationen Eingang in die dreibändige amtliche Kreisbeschreibung und daran anschließende Werke gefunden.

Im Staatsarchiv Sigmaringen sind im Bestand der vom Landratsamt Tübingen abgelieferten Akten Wü 65/36 in der Akzession 31/1973 vor allem zusammenfassende Listen und statistische Übersichten aufgrund der von den Gemeinden abgelieferten Formulare und der zugehörige Schriftverkehr vorhanden.

Aus französischer Sicht geben das Archiv des Außenministeriums über die Besatzungszone in Colmar und der Service Historique der Armee in Vincennes Informationen über das Kreisgebiet. Während in Colmar die Überlieferung jedoch im wesentlichen erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1945 beginnt – der erste Monatsbericht des Militärgouvernements stammt vom 25. November 1945<38> – enthält das Archiv in Vincennes auch Akten vom Frühjahr 1945 von den im Kreis einmarschierten Militäreinheiten, vor allem der 5. Panzerdivision und der 2. marokkanischen Infanteriedivision.<39> Anna und Albrecht Kroymann haben sie durchgesehen und ausgewertet. Mit ihrer Hilfe konnten für einzelne Orte Einmarschdaten und die betreffenden französischen Einheiten ermittelt werden, außerdem fanden sich interessante Hinweise auf die „Einstellungen“ der Truppen anhand von Tagesbefehlen und Aufklärungsberichten.

Recht ausführlich sind mitunter Berichte über das Kriegsende in den kirchlichen Archiven. So haben viele katholische Geistliche, die ja zur permanenten Führung einer Pfarrchronik verpflichtet sind, das Geschehen beim Einmarsch kurz danach festgehalten. Evangelische Pfarrer hatte die Landeskirche dazu verpflichtet, derartige Berichte einzureichen.<40> In einer Reihe von Orten bilden diese Aufsätze der Pfarrer oder die Pfarrchroniken die einzige schriftliche Quelle. Sie sind freilich von sehr unterschiedlicher Qualität, oftmals auch unter dem unmittelbaren Eindruck und Schrecken der Ereignisse verfaßt und haben mitunter einen stark moralisierenden Unterton. Auch können trotz der zeitlichen Nähe falsche Datierungen vorkommen.

Schließlich stammen viele Informationen und illustrativ eingefügte Zitate aus einer Reihe von Zeitzeugeninterviews und autobiographischen Zeugnissen. Zum Teil handelt es sich dabei um tagebuchartige Aufzeichnungen unmittelbar aus der Zeit nach dem Einmarsch, wo auch Personen, die sonst nicht Tagebuch führten, das Erlebte in schriftlicher Form verarbeiteten. Im Kreisarchiv sind diese Zeugnisse in die „Sammlung Erinnerungen“ eingeordnet. Den Hauptteil dieser Sammlung bilden indessen Interviews, welche das Kreisarchiv Tübingen im Zusammenhang mit der Ausstellung „Erlebte Dinge“ und dem Projekt Kriegsende 1992, 1993 und 1994 führte. Auch in Interviews des Projektes „Heimatgeschichte des Nationalsozialismus“ des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen kam das Kriegsende am Rande zur Sprache.<41> Für viele Orte bildet „erinnerte Geschichte“ die ausführlichste erreichbare Quelle.

Zwar kommt man mit ihrer Hilfe nur in seltenen Fällen zu genauen Zeitangaben. Die Gewährsleute wissen hingegen über ein großes Spektrum von Fakten zu berichten, etwa wie und wo der Volkssturm Panzersperren anlegte, wie sich Bürgermeister und Ortsgruppenleiter verhielten, wo Zwangsarbeiter untergebracht waren, unter welchen Umständen ein beim Einmarsch oder bei Fliegerangriffen Getöteter ums Leben kam. In Bodelshausen beispielsweise ließ sich ein Standgericht, das die SS wenige Tage vor dem Einmarsch abhielt, nur noch aufgrund von Zeitzeugenberichten ermitteln.

Erinnerte Geschichte bewegt sich nicht selten an jener Grenzlinie entlang, wo sich Geschichte und Geschichtchen ineinander flechten. Darin liegen gewisse Gefahren, aber auch Erkenntnismöglichkeiten. In einem erinnerten Eindruck an die Angst vor dem Einmarsch oder beim Bombenangriff, an Empfindungen gegenüber nationalsozialistischen Parteigrößen und die Besatzer kommen möglicherweise mentalitätsgeschichtlich interessante Informationen zum Ausdruck. Bei der ersten Begegnung mit den dunkelhäutigen französischen Kolonialsoldaten, bei der Erinnerung an ihre strahlend weißen Zähne, schwingen oft auch Klischees mit, die zum Beispiel auf gesellschaftliche Vorurteile schließen lassen.

Auch der Übergang zu ortsgeschichtlichen Legenden und Mythen ist fließend. So schrieben Wachendorfer Bürger die Rettung ihres Ortes vor französischer Einquartierung einem französischen Offizier namens „von Wachendorf“ zu, der womöglich mit der Familie von Ow verwandt gewesen sei. Im Ortsartikel steht der wahre Hintergrund dieser Erzählungen. Viele Legenden ranken sich auch um das Hissen der weißen Fahnen und die damit verbundenen Turbulenzen. Mythen gehen auf, wenn anscheinend göttliche Strafgerichte in Form eines Tieffliegerangriffs über einen SA-Offizier hereinbrechen, wenn ausgerechnet und als einziges das Gebäude des NSDAP-Ortsgruppenleiters in Mössingen getroffen wird, oder wenn ein versehentliches Bombardement wie auf Kusterdingen oder Wankheim als Vergeltung für die Hinrichtung eines Zwangsarbeiters, die Entweihung eines jüdischen Friedhofs erscheint.

Manche Legenden oder Gemeinplätze, hinter denen natürlich auch gleichartige Erlebnisse stehen können, finden sich sogar in unterschiedlichen Orten. Das gute Verhältnis zu den Zwangsarbeitern etwa. Auch die Verunstaltung von Frauen zum Schutz vor Vergewaltigungen wird vielerorts erzählt. Sie ging so weit, daß ein mitleidiger französischer Kolonialsoldat eine Jettenburgerin auf die guten Stoffe in seiner Heimat hinwies. Daß bestimmte Erlebnisse und Vorfälle in einer besonderen Art erinnert werden, legt mitunter ebenfalls Rückschlüsse auf eine bestimmte gesellschaftliche Befindlichkeit nahe.

Oft sind es gerade die nett und flüssig erzählten Geschichtchen, deren wahrer Kern bearbeitet und abgeschliffen worden ist. Man muß sich immer im Klaren sein, daß die gesammelten Erinnerungen vielfach gebrochen sind. Jeder Zeitzeuge hat das Kriegsende anders erlebt, je nachdem, wo er sich gerade aufhielt, in welcher Straße, in welchem Haus und unter welchen Umständen. Und was ist in fünfzig Jahren nicht alles mit den Zeitzeugen geschehen? Außerdem hat man im Dorf vermutlich über die damaligen Ereignisse gesprochen, seine eigenen Erlebnisse mit denen anderer verglichen und aus dem insgesamt „Fleckenkundigen“ einiges in sein Gedächtnis als eigene Erinnerung übernommen. Insofern stellen die jetzt gesammelten Erinnerungen auch ein Zeitdokument des Jahres 1995 dar. Und es ist die von den Zeitzeugen in diesem Jahr getroffene Auswahl. Die Interviewer erlebten auch Fälle offensichtlich geglückter Verdrängungen.

Man muß sich Zeitzeugenaussagen also sehr genau anschauen, um ihren Wert und ihre Fallstricke kennenzulernen. Insofern müssen in den folgenden Artikeln vor allem die als Aussagen von Zeitzeugen kenntlich gemachten Passagen mit entsprechenden Fragezeichen versehen werden. In ausführlicher Form stehen diese Quellen im Kreisarchiv Tübingen für die wissenschaftliche Forschung zur Verfügung, sofern den Interviewten nicht Vertraulichkeit zugesagt wurde, und werden von dieser Stelle weiterhin gesammelt.