von Wolfgang Sannwald, 1996
In: KreisA Tübingen P08_1996_50 Jahre Kreistag
In einer „Note d´Information“ berichtete der Tübinger Kreisgouverneur Lieutenant Colonel Courtois seinen Vorgesetzten über das erste Treffen der Tübinger Kreisversammlung am 29. Oktober 1946. Er habe einige kurze Worte an die Mitglieder gerichtet, in denen er zum Ausdruck brachte, welch große Bedeutung das Militärgouvernement dieser Versammlung beimesse. Wenn er auch betonte, daß das Organ „frei arbeiten“ könne, so klang in seinen Worten auch das Mißtrauen der französischen Militärverwaltung an.
Schule der Demokratie
Wachsam würde sie den Prozeß der Demokratisierung in ihrer Zone verfolgen, was auch der französische Oberbefehlshaber Pierre Koenig im September 1946 in einem Interview klargemacht: „Wir werden Deutschland nicht eher verlassen, bevor wir nicht die Sicherheit haben, daß die demokratischen Ideen im deutschen Volke fest verankert sind und daß kein neuer Hitler wieder entsteht, der in wenigen Wochen das Aufbauwerk, zu dem wir viele Jahre brauchten, zerstört“. Der Oberbefehlshaber ging von 30 bis 40 Jahren aus, die er dauern würde, bis die Deutschen sich das Gedankengut der Demokratie völlig angeeignet hätten.
Solche Aussagen über das unmittelbar nach Kriegsende dominierende französische Sicherheitsinteresse standen also im Hintergrund, als die erste unmittelbar gewählte Kreisversammlung zusammentrat. Auch Staatsrat Carlo Schmid, der damals als „Regierungschef“ die Geschicke des französisch besetzten Südwürttemberg-Hohenzollern wesentlich mitbestimmte, rückte den Wiederbeginn ins rechte Licht. Seiner Ansicht nach schuf die Kreisversammlung „zum ersten Mal wieder über den Bereich der Gemeinde hinaus etwas wie eine demokratische Möglichkeit“. Das wäre „zwar noch keine Demokratie im vollen Sinne des Wortes, eine solche setzt voraus, daß das Volk sich selbst regiert. Das ist aber auf der Stufe des Kreises schon begrifflich nicht möglich und auf der Stufe des Landes heute faktisch auch nicht möglich… Aber die Kreisversammlung gibt die Möglichkeit, etwas wie eine Schule der Demokratie zu eröffnen.“
Jean Arnaud, der die Abteilung für Information bei der französischen Militärregierung leitete hatte daher in einem Pressegespräch am 7. September 1946 auf die große Bedeutung der kommenden Gemeinde- und Kreiswahlen hingewiesen. Die Welt werde Deutschland nicht nach seinen Worten, sondern nach seinen Taten beurteilen. Eine hohe Wahlbeteiligung könnte beweisen, daß die Deutschen auf dem Weg zur Demokratie seien.
Lieber Buchele sammeln
Nach der relativ positiven Überraschung bei den Gemeinderatswahlen bildete die Beteiligung bei den Wahlen zur Kreisversammlung am 13. Oktober 1946 jedoch eine herbe Enttäuschung. Umso mehr, als die Wähler mit den Kreisversammlungen gleichzeitig das Wahlgremium bestimmten, das über die Zusammensetzung der für die Landesebende zuständigen Beratenden Landesversammlung entscheiden sollte. Nur 57,3 Prozent beteiligten sich im Landkreis Tübingen an dieser Abstimmung, das war die geringste Wahlbeteiligung in ganz Südwürttemberg-Hohenzollern. In einzelnen Orten wie Kilchberg gingen gar nur 23,8 Prozent, in Nellingsheim 27,5 Prozent zur Urne.
Die damalige „politische Apathie“ hatte sicherlich mehrere Ursachen. Eine gewisse Müdigkeit mochte das Wahlvolk befallen haben, da es sich um die dritte Wahl in Folge innerhalb von vier Wochen handelte. Mancher schätzte die Bedeutung der Kreisversammlung vielleicht falsch ein, weil ihr Vorläufer vor 1933 lediglich administrative Aufgaben gehabt hatte und nicht in geheimer direkter Abstimmung gewählt worden war. Ein Kommentator des Schwäbischen Tagblatts interpretierte die Wahlmüdigkeit als eine „Erbsünde des Dritten Reiches“ und malte schwarz: „Dunkel steht die Zukunft vor uns. Wir machen sie aber noch dunkler, wenn wir weiterhin so gleichgültig in den Tag hineinleben und nur danach trachten, die oft zu persönlichen Wünsche erfüllt zu wissen.“
Doch er hatte auch beobachtet: nach dem Schließen der Wahllokale versuchten etliche Wähler, „die noch mit dem Rucksack bepackt vom Buchelesammeln zurückkamen“, Einlaß zu finden. „Einen besonderen Paragraphen für Nachzügler kennt die Wahlordnung aber nicht, weshalb diese Spätlinge ohne Stimmabgabe, aber mit etlichen Pfund Bucheckern im Rucksack nach Hause zogen“. Der Erwerb von Lebensmitteln hatte damals für viele Tübinger Vorrang vor allem anderen, auch vor politischer Betätigung.
Eindeutiger Sieger dieser ersten Wahlen zur Kreisversammlung war die CDU. Sie errang fast 52 Prozent der gültigen Stimmen und damit die absolute Mehrheit der 25 Sitze. Als zweitplazierte Partei konnte die SPD mit 20 Prozent nur leichte Vorteile gegenüber der DVP mit 16 Prozent und der KPD mit 12 Prozent verbuchen.
Erst nach der Wahl mußten sich einige Mitglieder der Kreisversammlung einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen. Ein Mitglied der Tübinger Kreisversammlung verlor sein Mandat wieder, „da ihm vom Staatskommissar für die politische Säuberung das Recht der Wählbarkeit auf die Dauer eines Jahres abgesprochen wurde“.
Von der Silberburg ins Derendinger Haus
Nicht nur die Entnazifizierung, die Gegenwart des französischen Kreisgouverneurs bei der ersten Kreisversammlung oder die Wahlenthaltung der Buchelesammler gehören zu den außergewöhnlichen Zeitumständen, welche die erste Sitzung des heutigen Kreistags vor 50 Jahren begleiteten. Eine andere Folge des Zweiten Weltkrieges, mit der es die Mitglieder der Kreisversammlung zu tun bekamen, war die wirtschaftliche und soziale Not. Von ihr zeugt bereits der Tagungsort. Das Gremium trat am 29. Oktober 1946 im Derendinger-Haus in der Schloßbergstraße 5 zusammen. Der Kreisverband hatte seine Räume im Gebäude der Kreissparkasse, Am Lustnauer Tor 3, noch im Mai 1945 an Einheiten der französischen Armee abtreten müssen und war nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in der „Silberburg“, Wiernergässle 1, am 1. März 1946 in das beschlagnahmte Verbindungshaus eingezogen.
Wie dem Keisverband erging es vielen anderen Behörden, vor allem aber auch vielen Privatleuten in Tübingen. Das Wohnungsproblem bereitete auch dem französischen Kreisdelegierten, der dafür zuständig war, ständiges Kopfzerbrechen. In Tübingen verschärften Displaced Persons, von denen sich 1946 noch etwa 1400 ständig hier aufhielten, das Problem. Erschwerend kam hinzu, daß Tübingen die Funktion einer Hauptstadt hatte und deshalb nicht nur Büros für die französische Zonenverwaltung, sondern auch für das deutsche Staatssekretariat beschlagnahmt wurden. Als französische Soldaten und Beamte ihre Familien nachholten, mußten Wohnungen für 3000 Franzosen beschafft werden. Sogar der in Rottenburg lebende Bischof Joannes Baptista Sproll klagte: „Ach, wenn die französischen Familien nicht gekommen wären, wäre alles viel leichter!“ Als dann auch noch der Oberbefehlshaber die Wohnungen der Universitätsprofessoren vor Requisitionen schützte, stöhnte auch Kreisgouverneur Brochu: „ein regelrechter Schlag auf den Kopf“.
Jagd nach Fettstoffen
Auch die Redebeiträge von Landrat Viktor Renner und einiger der 22 anwesenden Mitglieder bei der ersten Kreisversammlung zeichneten ein Bild der prekären Lage, das vor allem von Nahrungs- und Wohnraummangel geprägt war. Im Bericht des Schwäbischen Tagblatts über die Sitzung heißt es: „Die Fragen der Ernährung, der Bekleidung, der Kriegsgefangenen, des Mangels an Arbeitskräften bildeten verständlicherweise das A und O der Diskussion, denn tatsächlich interessiert sich heute die Bevölkerung vor allem dafür, und außerdem hängt unsere ganze Existenz sehr davon ab…; gegen all diese aufgezählten Probleme Stellung zu nehmen, bei der Bevölkerung aufklärend zu wirken, ist für die Kreisversammlungsmitglieder ebenso notwendig wie ihr Eintreten für die berechtigten Interessen der Bevölkerung.“
Wie angespannt die Versorgungslage damals war geht auch aus den Berichten des französischen Kreisgouverneurs Brochu an seine Vorgesetzten hervor. Er bezeichnete das Jahr 1946 als die Zeit der „vaches maigres“, der mageren Kühe. Bedrohlich war vor allem, daß jedem Einwohner nur etwa 1000 Kalorien in jenen Monaten zugeteilt werden konnten. Das war nicht einmal die Hälfte dessen, was für Menschen ohne große körperliche Belastungen als nötig erachtet wird. Während des gesamten Krieges hatten die Deutschen im Kreisgebiet keinen vergleichbaren Mangel erlebt. Jetzt setzte eine „wahre Jagd… besonders nach Fettstoffen“ ein. Brochu beobachtete auch, daß viele Leute ihre Kleider zum Schneider brachten, damit er sie enger nähte.
Nach Ansicht des Kreisgouverneurs hatten freilich die Landleute „immer zu essen“. In deren Schränken würden sich Silbergeschirr, Leinen und andere Produkte stapeln, „die der Städter ihnen zum Tausch für ein Stück Speck oder für etwas Gemüse herbeibringt“.
So viel Publikum besuchte in jenen Monaten das Wirtschafts- und Ernährungsamt des Landkreises im 3. Stock des Schimpf´schen Gebäudes, Am Lustnauer Tor 1, daß der Landkreis das Treppenhaus wöchentlich samstags vom 3. Stock bis zur Haustüre naß reinigen lassen mußte. Auf diese geradezu sensationelle Ausnahme von der Schwäbischen Kehrwoche mußte sich das Landratsamt einlassen, obwohl Schüler der Tübinger Freien Waldorfschule täglich in ihr Klassenzimmer im 2. Stock des Gebäudes stiefelten.
Biete Handleiterwägelchen…
Der spätere wirtschaftliche Aufschwung konnte die Kreisversammlung seinerzeit auch nicht beruhigen, weil er noch hinter den Nöten der Fabriken verblaßte. Die Demontagen begannen und gleichzeitig arbeiteten die Fabriken fast alle nur für die Bedürfnisse Frankreichs. Dabei fehlte es zunächst überall an Arbeitskräften, da viele Männer gefallen, vermißt oder noch in Gefangenschaft waren.
Der Landrat hatte alle Hände voll zu tun, um im Rahmen von Kompensationsgeschäften wenigstens das eine oder andere zu erhandeln. Die Ofterdinger Stielfabriken forderte er beispielsweise auf, „die Produktion an Handleiterwägelchen in stärkstem Maße zu forcieren…“ Im Tausch für sie sollten in den Kreis hauptsächlich Nahrungsmittel, Kleider und Schuhe hereinkommen.
In der Kreisversammlung prangerte Mitglied Diener aus Hemmendorf (CDU) „die unreellen Geschäftsmethoden der Schuhgeschäfte an, die Schuhe nur gegen Lebensmittel verkaufen“. Mitglied Maier aus Wolfenhausen wies „auf den grossen Mangel an landwirtschaftlichen Bedarfsartikeln, wie zum Beispiel Hufnägel“ hin, „während in der amerikanischen Zone grosse Mengen davon lagern“. Während sich gleich eine ganze Reihe von Kreisverordneten mit dem Mangel an Fahrradreifen befaßten, artikulierte Ferdinand Zeeb von der KPD das, was vielen Kreisbewohnern damals naheging, die vom französischen Oberkommando angeordneten „Kahlhiebe in unseren Wäldern“. Zeeb wies auf schwere Folgen wie eine Klimaänderung hin. Auch dem französischen Kreisgouverneur war übrigens durchaus bewußt, wie sehr die Deutschen diese Art von Reparationsleistung verabscheuten. Er führte den Zorn, der trotz aller Alltagsnöte brodelte, auf die „Sensibilität der deutschen Seele“ zurück, die all das bewege, „was ihre Wälder berührt“.
Ein politisches Gremium
Die 22 anwesenden Mitglieder der Kreisversammlung samt dem Landrat berieten an jenem 29. Oktober 1946, so skurril die Diskussionen um Fahrradreifen und Hufnägel aus heutiger Sicht auch erscheinen mögen, durchaus über drängenden Probleme der Zeit. Allerdings fehlte den Mitgliedern die Kompetenz, Abhilfe zu schaffen. Die Gewählten nahmen durch diese Diskussionen indessen jene allgemeine „politische“ Funktion wahr, die ihnen die französische Militärverwaltung und das deutsche Staatssekretariat zugedacht hatten. Carlo Schmid erläuterte bei einer Dienstbesprechung den versammelten Landräten die Funktion ihrer Kreisversammlungen als „politisches Gremium, auch wenn ihre Kompetenzen eng begrenzt sind, die im wesentlichen aus Verwaltungsfunktionen bestehen“.
Wie weit diese Artikulation von politischem Willen in der Tübinger Kreisversammlung gehen konnte, bewies Oberfinanzrat Schneider aus Rottenburg (CDU), der gleich während der ersten Sitzung „seiner Misstimmung darüber Ausdruck gab, dass der Kreis Rottenburg als selbständiger Kreis aufgehoben und in den Kreis Tübingen eingegliedert wurde. Damit könne sich Rottenburg nie abfinden…“
Gar nicht im Sinne von Carlo Schmid war wohl eine andere Art von Politisierung der Kreisversammlung bei ihrer ersten Zusammenkunft. Hatte er doch gegenüber den Landräten betont, daß er mit der „politischen“ Funktion der Kreisversammlung nicht meinte, „daß sie Parteipolitik treibe“. Entgegen dieser Mahnung setzte die CDU mit ihrer absoluten Mehrheit durch, daß sie vier, SPD, KPD und DVP aber jeweils nur ein Mitglied in den für laufende Verwaltungsgeschäfte gebildeten Kreisversammlungsausschuß entsenden konnte. Dieser Ausschuß war das entscheidende Gremium im Landkreis, weil die sieben Mitglieder relativ häufig mit dem Landrat zusammenkamen und konkrete Sachentscheidungen trafen.
Lokalbahnen und Wasserleitungen
Seine Kritik an der Auflösung des Kreises Rottenburg richtete Schneider damals an die falsche Adresse, wie ihn der Landrat sogleich aufklärte. Die Kreisversammlung durfte zwar über alle politischen Fragen beraten, ihre Kompetenzen waren aber eingeengt. Immerhin war das Grmium durchaus ein Fortschritt gegenüber den früheren „Amtsversammlungen“, die nicht direkt gewählt, sondern aus entsandten Vertretern der Gemeinden zusammengesetzt waren. Nach Hitlers Machtantritt hatten diese Amtsversammlungen, die damals den Namen „Kreistag“ erhielten, am 27. Januar 1934 wichtige Funktionen verloren und waren seitdem fast nur noch beratend tätig. Eine Verordnung vom 26. September 1939 brachte schließlich das Aus für dieses Gremium, so daß der Landrat während des Krieges den Landkreis ohne die Mitwirkung eines gewählten Gremiums „führte“.
Nur, um die ersten Wirren nach dem Kriegsende überwinden zu können, stützte sich die französische Armee zunächst auf dieses vorgefundene System. Die Zeit der Bürgermeister und Landräte, die unter französischer Aufsicht „aus dem Sattel“ regierten, blieb jedoch ein Zwischenspiel. Gemäß ihrem Anspruch, in Deutschland eine „wahre Demokratie“ einzurichten, sorgte die Militärverwaltung dafür, daß auf den kommunalen und unteren staatlichen Ebenen Gremien gewählt wurden. Als oberster Souverän erließ das französische Oberkommando in Deutschland mit der Verordnung Nr. 61 die erste Kreisordnung nach dem Krieg, welche bis zur Kreisordnung vom 22. Dezember 1948 galt.
In Südwürttemberg-Hohenzollern flossen in diese Verordnung Nr. 61 manche Prinzipien der französischen Verwaltungspraxis ein. So, wie die französischen Präfekten Staatsbeamte sind, blieb beispielsweise auch der Landrat staatlicher Beamter. Während die Amtsversammlung früher Beamte gewählt hatte, blieb ihr nach französischem Vorbild nur mehr die Kompetenz, über den Stellenplan den Rahmen für die Personalpolitik des Landrats vorzugeben.
Gemäß Artikel 22 hatte die Kreisversammlung vor allem die Aufgabe, den Kreishaushalt aufzustellen und seine Ausführung zu kontrollieren. Ferner erstreckte sich ihre Kompetenz auf Nebenstraßen und Lokalbahnen, Trinkwasserleitungen, Nutzung der Wasserkraft, Asyle und Fürsorgeanstalten, Altersheime sowie auf die Kreisfachschulen für Landwirtschaft und Haushalt.
Den Atem einhauchen
Den Landräten als Vorsitzenden und „Geschäftsführern“ der Kreisversammlungen maß Staatsrat Carlo Schmid eine besondere Bedeutung für die Demokratisierung bei: „Sie haben der Kreisversammlung den Atem einzuhauchen. Wenn sie den Kreisversammlungen nicht das Leben geben, das sie brauchen, um mehr zu sein als eine Attrappe,… dann wird nur in den seltensten Fällen aus den Kreisversammlungen heraus etwas wie ein Leben wachsen können…“ Die Rolle der Landräte sei besonders wichtig, weil die Kreisversammlungen nur zweimal im Jahr zusammenkämen: „Es wird also zwischen den Versammlungen eine Kontinuität fehlen und die Mitglieder der Ausschüsse werden mit ihren Kollegen aus dem Plenum nur selten in den Zwischenperioden zusammenkommen. An Ihnen wird es also liegen müssen, ob die Kreisversammlungen Leben bekommen oder nicht…“
Dieses Leben haben die Kreisversammlungen im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zur Genüge entwickelt. Tagte die Kreisversammlung vor einem halben Jahrhundert gerade an zwei halben Tagen im Jahr, so traf sich der Kreistag 1995 achtmal. Außerdem gehört heutzutage jedes der 58 gewählten Mitglieder mindestens einem Ausschuß an, so daß sich sein Zeitaufwand für die Kreispolitik mehr als vervierfacht hat. 1995 tagten der Verwaltungs- und Technischen Ausschuß 6 mal, der Verkehrsausschuß 9 mal, der Jugendhilfeausschuß 4 mal, der Sozial- und Kulturausschuß 5 mal, der Ältestenrat 7 mal und die Schulbegehungskommission einmal. Dieser kurze statistische Ausblick deutet bereits an, daß sich das Erscheinungsbild und die Bedeutung dieses Kreisgremiums in den letzten 50 Jahren gewaltig verändert hat.
Eine Schleuse öffnet sich
„Die Kreistagswahlen waren bitter notwendig“. Zu diesem Ergebnis kam der Berichterstatter der Tübinger Chronik am 1. November 1946 unter der Überschrift „Die erste Kreisversammlung hat getagt“. Zwar würde die Wahlbeteiligung vom 15. Oktober 1946 diese Behauptung nicht bestätigen, „aber wer Gelegenheit hatte, an der ersten öffentlichen Sitzung der Kreisversammlung, die am Dienstag auf dem früheren Derendingerhaus stattgefunden hat, teilzunehmen, der muß unwillkürlich die Notwendigkeit dieser Kreisversammlung anerkennen.“ Zumindest sei der Aufbruch nach 13 Jahren Terror und Diktatur deutlich zu spüren gewesen: „Hier sprechen die gewählten Vertreter der Bevölkerung. Und diese haben bereits bei der ersten Sitzung davon sehr rege Gebrauch gemacht. Es war gleichsam als würde sich nach langer Zeit eine Schleuse öffnen, aus der lang aufgestapelte Energie und Tatbereitschaft ausströmen.“