8. Februar 2025

Sudan: Die humanitäre Katastrophe, die keiner sieht

Von David Firschau
Weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit ist der Krieg im Sudan Schauplatz einer Katastrophe. „Es ist die größte humanitäre Krise der Welt. Nirgends leiden mehr Menschen Hunger, sind mehr Menschen vertrieben aus ihrem Zuhause als in Sudan. Allein das sollte Deutschland als eines der reichsten und wichtigsten Länder der Welt etwas angehen“, sagt der Friedens- und Konfliktforscher Dr. Gerrit Kurtz. tuenews INTERNATIONAL hat mit ihm über die Lage im Sudan gesprochen. Gleichzeitig ereignet sich dort eine riesige Flüchtlingstragödie, die auch Europa erreicht. Nach den Zahlen des UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR mussten seit Beginn des Krieges allein „über 10 Millionen Menschen ihr Zuhause verlassen, davon über 2 Millionen, die auch die Landesgrenzen Sudans verlassen haben und in andere Länder geflohen sind“, sagt Kurtz. Er ist Friedens- und Konfliktforscher bei der Stiftung Wissenschaft & Politik in Berlin. Der Wissenschaftler war mehrmals im Sudan.

Was passiert im Sudan?
Seit dem 15. April 2023 toben verheerende Kämpfe im Sudan. Nach dem Sturz des langjährigen diktatorischen Präsidenten Sudans, Omar al-Baschir, im Oktober 2021 sollte eine zivil-militärische Übergangsregierung gebildet werden. Dies missglückte, da zwei konkurrierende Kräfte aus dem Sicherheitssektor einen zu großen Verlust an Macht befürchteten. Die von al-Baschir gegründete Miliz RSF (Rapid Support Forces) und die sudanesische Armee (SAF) bekämpfen sich erbittert. „Der Krieg wird zulasten der Zivilbevölkerung geführt und zwar zulasten einer großen Menge der Bevölkerung“, so Kurtz.
Seither hat sich die Waffengewalt wie ein Lauffeuer über große Teile des Landes ausgebreitet. Wie viele Menschen direkt im Krieg oder indirekt an seinen Folgen gestorben sind, ist laut Kurtz nicht verlässlich festzustellen. „Wir kennen keine genauen Zahlen.“ Die offiziellen Zahlen mit über 20.000 seien „auf jeden Fall zu niedrig. Wir können davon ausgehen, dass es deutlich mehr sind.“ Hinzu kommt die große Zahl an Flüchtlingen. Kurtz weiß aus offiziellen Quellen, dass mindestens zehn Millionen Menschen ihr Zuhause verlassen mussten. Zwei Millionen davon haben die Landesgrenzen des Sudan übertreten. Die Miliz RSF kontrolliert weite Teile des Landes und der Bevölkerung, schätzungsweise mindestens 60 Prozent. Hinzu kommt noch die bedrohliche Nahrungsknappheit. „25 Millionen Menschen sind von Hunger bedroht. 750.000 stehen vor dem Hungertod.“ Diese Zahl sei allerdings schon einige Monate alt.

Die Situation der Geflüchteten
Den Zahlen der UN zufolge sind die zwei Millionen SudanesInnen, die ihr Heimatland verlassen haben, größtenteils in den Tschad, in den ebenfalls von Krisen gebeutelten Südsudan, nach Ägypten, in die Zentralafrikanische Republik und nach Äthiopien geflüchtet. Dort leben sie in großen Lagern unter prekären Umständen. Es gibt zu wenig Raum für alle Menschen. Die Kriminalitätsrate in den Lagern ist sehr hoch. Nicht nur in benachbarten Ländern sind Geflüchtete untergebracht, die meisten befinden sich in Lagern innerhalb des Landes. Dort kann die medizinische Versorgung nicht gewährleistet werden. Ärzte ohne Grenzen berichtet allein im Lager Samsam von 13 toten Kindern pro Tag. „Wir schätzen, dass in dem Lager alle zwei Stunden mindestens ein Kind stirbt“, schreibt die Hilfsorganisation, die selbst in dem Lager tätig ist. Schätzungen der UN sprechen von mindestens 100 Hungertoten im Sudan pro Tag, „30 Prozent der Kinder gelten als akut unterernährt.“

Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe
Umfassende Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind dokumentiert und geschehen beinahe täglich. Zu den Mitteln der SAF zählt beispielsweise die flächendeckende Bombardierung von Großstädten mit Raketen, aber auch der Einsatz von Drohnen. Die RSF, die ohnehin schon als sehr gewalttätig bekannt war, geht noch um einiges weiter: „Leider sehen wir auch einen erheblichen Einsatz von sexueller Gewalt als Kriegswaffe zur Unterdrückung der Bevölkerung. Letztendlich auch zum Teil zur Entvölkerung bestimmter Landesteile und um bestimmte Bevölkerungsgruppen zu vertreiben“, so Kurtz. Es gebe auch Plünderungen. Die Ernährungskrise wird ebenfalls gezielt gegen Städte und Teile der Bevölkerung eingesetzt. „Es gibt Gegenden und Städte, die quasi im Belagerungszustand sind, wie Sannar oder El Fascher“, sagt Kurtz. Es sei für die Menschen sehr schwierig und sehr gefährlich, die Stadt zu verlassen oder für humanitäre Hilfe in die Stadt zu kommen: „Beide Hauptkonfliktparteien haben es erschwert.“
Bevölkerungsgruppen werden gezielt Opfer der Kriegshandlungen. Die Masalit, die bereits vor 20 Jahren Opfer eines Genozids waren, werden vor allem von der RSF verfolgt: Die Miliz ermordet ihre Kinder, verwüstet ihre Häuser, plündert ihr Hab und Gut, vergewaltigt ihre Frauen und tötet sie gezielt. Über diese ethnische Säuberung gegen jedes internationale Recht berichtete das ZDF mehrfach, unter anderem im August dieses Jahres. Die Berichterstattung erzeugte keine große Resonanz.

Die Folgen für Deutschland und Europa
Wie Kurtz erklärt, „haben sich nach dem Sturz al-Baschirs Deutschland und Europa stark im Sudan engagiert. Wir haben Erwartungen geschürt und wir haben darin investiert.“ Der Hintergrund: „Sudan liegt in einer strategisch sehr wichtigen Region, berührt verschiedene Subregionen, den Nahen Osten und das Rote Meer“ – also liegt er an einer der Hauptschifffahrtsstraßen zwischen Europa und Asien. „Dort wollen Länder, die Deutschland nicht wohlgesonnen sind, wie der Iran oder Russland, militärische Stützpunkte errichten. Durch eine Basis am Roten Meer könnten die Länder Druck auf Europa ausüben, indem sie die Schifffahrt stören – so wie die Huthis, vom Iran unterstützt, das jetzt bereits tun.“ Die reichen Ressourcen Sudans sind ebenfalls begehrt. Laut Kurtz hat „Gold aus Sudan maßgeblich dazu beigetragen, dass Russland seine Reserven auffüllen konnte, und stärkt auch damit den russischen Staat weiterhin“. Die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützen die RSF umfassend. Unter anderem betreiben sie für die RSF eine Drohnenbasis zu Aufklärungszwecken neben einem Krankenhaus an der Grenze zwischen Tschad und dem Sudan.

Was könnte zur Lösung des Konflikts beitragen?
Die Empfehlung des Wissenschaftlers Dr. Gerrit Kurtz an die Politik ist, die Bürger des Sudans am Dialog teilhaben zu lassen. Aus dem Sudan und in der sudanesischen Diaspora „sind sehr viele zivile Akteure gut vernetzt und organisiert, an diesem Punkt könnte man ansetzen“. Die Öffentlichkeit hat aber auch viel Einfluss. Parteien und Länder, die in den Konflikt eingebunden sind, könnten zum Beispiel von der breiten Öffentlichkeit sanktioniert werden. Man könnte Konzerte – wie bereits geschehen – absagen oder nicht besuchen, Sponsorenverträge aufkündigen. „Prominente, Sportvereine oder Anhänger von Sportvereinen, die beispielsweise durch die Airlines der Emirate finanziert werden“, könnten Druck ausüben, sagt der Friedens- und Konfliktforscher.

Weitere Informationen in englischer und deutscher Sprache
Ein längerer Beitrag zu den Bedingungen im Sudan von Dr. Gerrit Kurtz:
swp-berlin | Machtbeziehungen im Sudan
Kurze Berichterstattungen des UN Flüchtlingskommissariates:
unocha | Sudan
des ZDF:
ZDF | Bürgerkrieg im Sudan
und der DW:
Deutsche Welle | Ethnische Säuberungen
Deutsche Welle | Geflüchtete aus Sudan

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